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Wem die Stunde schlägt

■ Oberstes Bundesgericht in Brasilien gibt Collor Zeit für Verteidigung in seinem Amtsenthebungsverfahren

Brasilia (afp) — Das Oberste Bundesgericht Brasiliens hat dem unter Korruptionsverdacht stehenden Präsidenten Fernando Collor de Mello am Donnerstag mehr Zeit für seine Verteidigung im Abgeordnetenhaus zugestanden. Collor erhält bis 23. September in zehn Sitzungen des Abgeordnetenhauses die Gelegenheit, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften. Ursprünglich sollte sich der Staatschef bis 15. September in fünf Sitzungen vor den Parlamentariern verteidigen. Durch die Verlängerung der Frist wird die Abstimmung über den Amtsenthebungsantrag gegen Collor möglicherweise erst Anfang Oktober stattfinden. Damit rückt die Abstimmung zeitlich an die Kommunalwahlen vom 3. Oktober heran. Dies könnte sich nach Ansicht von Abgeordneten negativ auf eine Zustimmung zu dem Amtsenthebungsverfahren auswirken. Die Abstimmung verliere für viele Politiker ihren Wahlkampfwert, erklärte der Abgeordnete der Partei der Demokratischen Brasilianischen Bewegung, Nelson Jobim. Das Urteil des Obersten Bundesgerichts, das mit sieben Ja- und einer Nein-Stimme gefällt wurde, begünstige die Position Collors, sagte Jobim. Am Mittwoch hatte Collor beim Obersten Bundesgericht Berufung gegen die offene und namentliche Abstimmung eingelegt, mit der über ein Amtsenthebungsverfahren entschieden werden soll. Für die Annahme des in der vergangenen Woche unterbreiteten Antrags auf Amtsenthebung ist eine Zweidrittelmehrheit von 336 der 503 Abgeordneten erforderlich. Bei Annahme des Antrags wird Collor für einen Zeitraum von höchstens 180 Tagen von seinem Amt suspendiert. Die endgültige Endscheidung liegt dann beim Senat, der in dem genannten Zeitraum — ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit — über die Amtsenthebung befinden muß. Mit dem Rücktritt des Ministers im Regierungsamt, Jorge Bornhausen, verschärfte sich am Donnerstag die Krise in Brasilien. Bornhausen ist bereits der zweite Minister, der seit Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Collor sein Amt abgibt. Unklar blieb zunächst, ob der Rücktritt Bornhausens vom Präsidenten akzeptiert wurde. Der Minister hatte Collor vorgeschlagen, mit dem Kongreß über seinen Rücktritt zu verhandeln, wenn die Abgeordneten im Gegenzug Collors Wirtschaftsreformprogramm zustimmen. Der Vorsitzende der Vereinigung pensionierter Soldaten (Famir), Joao Ferreira da Silva, kritisierte am Donnerstag die Militärs. Sie hätten Collor schon längst stürzen müssen, sagte Ferreira. Der pensionierte Luftwaffenleutnant erinnerte an das Jahr 1964, als das Militär den damaligen Präsidenten Joao Goulart entmachtete.

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