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PHILIPPINEN: ÜBER 100.000 MENSCHEN FLIEHEN AUS DEM PINATUBO-GEBIET

Pampangas Geisterstädte

Manila (taz) — „Am 15. Juni, genau um 12 Uhr mittags, wurde es plötzlich dunkel. Ich konnte meine Frau nicht mehr sehen und tastete nach einer Taschenlampe. Es war so finster, daß wir einfach blieben, wo wir waren und zu beten anfingen. Mein Gott, ich dachte, das Ende der Welt sei gekommen!“ So erlebte Ernesto Santos aus dem Dorf Dolores in der philippinischen Provinz Pampanga den verheerenden Ausbruch des Pinatubo, bei dem etwa drei Milliarden Kubikmeter Asche, Magma- und Gesteinsmassen bis zu 20 Kilometer hoch geschleudert wurden.

Mehr als ein Jahr danach stehen wir mit ihm auf einem kleinen Hügel am Rande des ehemaligen US-Luftwaffenstützpunktes Clark Air Base. Vor uns liegt eine schaurige Mondlandschaft: Lawinen aus einem grauen, flüssigem Beton ähnlichen Brei türmen sich meterhoch. Darüber lodern heiße Dampfwolken und erzeugen eine gespenstische Szenerie. Das Dorf Dolores, aus dem Ernesto Santos kommt, gibt es faktisch nicht mehr. Es wurde von den Schlamm-, Asche- und Geröllmassen, die man hier Lahar nennt, förmlich verschluckt.

Immer noch befinden sich Milliarden Kubikmeter Vulkanasche auf den Hängen des 1.745 Meter hohen Mount Pinatubo. Sie vermischen sich während der Regenzeit mit den Niederschlägen und erodierenden Ablagerungen früherer Ausbrüche, sowie Sand, Schlamm und Geröll. Dabei entsteht ein fester werdender, heißer Brei, der mit großer Wucht und einer Geschwindigkeit von teilweise über 30 Stundenkilometern talwärts stürzt und alles überrollt, was auf dem Weg liegt. Knapp eine Million Menschen aus den Unglücksprovinzen Pampanga, Zambales und Tarlac leben im Einzugsgebiet des Pinatubo. Über Hunderttausend von ihnen befinden sich gegenwärtig auf der Flucht vor der Lahar.

Die Regierung in Manila hat in den letzten Tagen eine Reihe von Städten und Dörfern faktisch aufgegeben und mit der Sofortevakuierung der Bevölkerung begonnen. In den weit über 100 Flüchtlingslagern spitzt sich die Lage dramatisch zu, denn sie sind hoffnungslos überfüllt. Die staatlichen Mittel — pro Tag und sechsköpfiger Familie stehen umgerechnet drei Mark zur Verfügung — reichen nicht aus. Es mangelt an Nahrungsmitteln. Seuchengefahr besteht, obwohl der philippinische Gesundheitsminister Juan Flavier den Ausbruch von Cholera und anderen Seuchen in den Lagern noch dementiert. Nach seinen Angaben hat das eingesetzte medizinische Personal die Lage unter Kontrolle. Das philippinische Wohlfahrtsministerium bestritt zwar Presseberichte in Manila, wonach in den Flüchtlingslagern kaum noch Lebensmittel vorrätig seien. Der neugewählte Präsident Fidel Ramos hat jedenfalls zu internationaler Hilfe aufgerufen. Aus Italien traf inzwischen eine erste Sendung mit Baumaterialien und gefriergetrockneter Nahrung ein.

Im Dau-Evakuierungszentrum auf dem Gelände von Clark Air Base erhält eine Familie von sechs Personen täglich immerhin noch zwei bis drei Kilogramm Reis und zwei Büchsen Fischkonserven. Noch vor einer Woche wurden hier etwa 6.000 Menschen beherbergt. Inzwischen mehren sich in Manila Stimmen, die eine großangelegte Umsiedlung von einer Million Menschen aus den gefährdeten Gebieten vorschlagen. Ins Auge gefaßt wird dabei die im Süden des Landes gelegene Insel Mindanao. Weitere Projekte sehen den Bau eines gigantischen Dammes vor, der weitere Städte und Dörfer vor den Vulkanmassen schützen soll, denn das Philippinische Institut für Vulkanologie und Seismologie registriert eine starke Zunahme von Beben im Pinatubo. Nach bisherigen Schätzungen wird es noch fünf bis zehn Jahre dauern, bis die Milliarden Kubikmeter Vulkanasche von den Hängen des Pinatubo heruntergespült sind. Eine erneute große Eruption des Vulkans wird nicht ausgeschlossen; 1991 kostete eine solche 800 Menschen das Leben.

In diesem Jahr hat die todbringende Lahar bisher 60 Opfer gefordert, was gemessen an dem Ausmaß der Katastrophe eine geringe Zahl ist. Dutzende Ortschaften wurden zu Geisterstädten, weil sie entweder völlig verschüttet oder aufgegeben wurden. In Mabalacat in der Provinz Pampanga werden immer wieder Plünderer beobachtet. Männer klettern zwischen zerborstenen, oft bis unter das Dach mit Lahar gefüllten Häusern herum und verstauen alles, dessen sie noch habhaft werden können in zerschlissene Leinensäcke. Die Polizei hat offensichtlich keinerlei Anweisung, einzugreifen. Jedenfalls sieht sie dem Treiben ungerührt zu. Schließlich weiß niemand, wie lange dieser Ort noch sicher ist. Immer wieder durchbrechen auch Einwohner die Absperrung und wagen sich in ihre ehemaligen Häuser vor. Es beginnt ein Sägen und Hämmern, um wenigstens noch Baumaterialien zu retten, mit denen sie irgendwo anders einen Neuanfang wagen wollen. Charles Rimando

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