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Festival des Mittelmaßes

Ärger mit Schönberg, Sitzfleisch für Tschaikowsky: Das Edinburgh-Festival 1992  ■ Von Sabine Lange

Wer zum ersten Mal zum Edinburgh-Festival kommt, sollte dem Reiseführer nur bedingt glauben. Die Euphorie, mit der die Schotten von ihrer „Olympiade der Künste“, vom „größten Künstlertreffen der Welt“, von der „Stadt als einziger Bühne“ schwärmen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der provinzielle Hauch bleibt. In Zahlen gesprochen ist das Festival zwar ein Mammutereignis. Doch über Qualität sagt das nichts aus.

Edinburgh-Festival — das ist nicht ein Festival, das sind mehrere. Gleichzeitig finden statt: das Edinburgh International Festival, das International Film Festival, das Jazz- und Bluesfestival und der Festival Fringe. Allein beim Fringe, dem „Rand“-Festival von überwiegend nicht-professionellen Theatergruppen, wurden in diesem Jahr 10.650 Aufführungen angeboten. Der Fringe steht, im Gegensatz zum International Festival, jedem Künstler und jeder Künstlerin ohne Zulassungsbeschränkung offen. Dementsprechend ist das Niveau bei einer Vielzahl von Aufführungen. Aber Professionalismus soll auch nicht das Ziel sein — das Motto von Veranstaltern und Mitwirkenden ist „Spaß haben“.

Das Publikum hat jedoch nicht immer Spaß daran, den überteuerten Eintrittspreis für eine Show zu bezahlen, über deren Inhalt es nur vage informiert wird. Man muß schon genug Geld besitzen und die Experimentierfreude der Künstler teilen, um einen Mindestpreis für eine einstündige Show zu bezahlen.

Mehr Qualität kann man vom International Festival erwarten, wenn auch Brian McMaster, der neue Festspieldirektor, sein Programm reichlich bizarr gestaltete. Was er für dieses Jahr aussuchte, reichte von der riskanten konzertanten Eröffnungsvorstellung von Schönbergs „Moses und Aaron“ bis zu den vier umstrittenen Themenschwerpunkten, die überwiegend schottisch orientiert waren. „Schottische Musik durch die Jahrhunderte“ ist nach eingehender Forschungsarbeit wieder zugänglich gemacht worden — und das „sind nicht nur Dudelsäcke und Fiedeln“, wie die Veranstalter eiligst versicherten, um ihr kulturelles Erbe ins rechte Licht zu rücken. Weitere Raritäten, von McMaster auf den Spielplan gehievt, waren die zum Teil noch nie aufgeführten Schauspiele der beiden Autoren C.P. Taylor und Harley Granville Barker. Daß McMaster es für notwendig hielt, gleich 14 dieser Stücke aufzuführen, läßt die Frage aufkommen, für wen dieses Festival gedacht war. Sollte es nur die verhältnismäßig kleine Zahl von Experten anlocken, oder hatte McMaster wirklich die Absicht, den Kartenverkauf für sein 12-Millionen-Programm auf diese Weise zu steigern?

Ähnlich sah es mit dem vierten Programmschwerpunkt aus: Tschaikowsky. Der ist zwar ohne Zweifel populärer. Aber in diesen Massen vorgeführt, kann man ihn sich nur allzuleicht überhören. Und das war sicherlich nicht das Ziel McMasters, der mit seiner um ein Jahr verfrühten Retrospektive die „Menschen auf das Tschaikowsky-Jahr 1993 vorbereiten“ wollte. Muß deshalb jedes nur auftreibbare Werk des russischen Komponisten aufgeführt werden? Müssen wir die „Festspielouvertüre über die dänische Nationalhymne“ kennen? Können wir nicht auch ohne die „Grande Sonate“ auskommen, deren Zweitklassigkeit im Programmheft ausgiebig entschuldigt wird? Entgeht uns etwas, wenn wir die „Streicherserenade “ oder die „Mozartina-Suite“ nicht hören?

Immerhin — wer sich oft genug in eines der 26 Tschaikowsky-Konzerte setzte, bekam eine Belohnung. Kontne er beweisen, daß er für mindestens zwölf dieser Konzerte eine Karte gekauft hatte, durfte er an der Verlosung einer Reise nach St. Petersburg teilnehmen. So unterstützte British Airways McMasters Programm.

Das Gute an der Tschaikowsky- Schwemme war, daß McMaster viele russische Künstler eingeladen hatte: die St. Petersburger Philharmoniker, Dirigenten wie Mark Ermler, Mariss Jansons, Dmitri Kitaenko und Yuri Simonov, das Borodin-Quartett, allen voran jedoch hervorragende russische Sänger: Olga Borodina (Mezzosopran), Elena Prokino (Sporan) und besonders der 29jährige Bariton Dmitri Hvorostovsky begeisterten in ihren Rezitals mit den in Westeuropa selten gehörten Liedern und Romanzen von Tschaikowsky und Rachmaninow. Gegen die emotionale Echtheit dieses Gesangs konnte selbst ein noch so gläserzerschmetternder Tenor des italienischen Fachs wie Dennis O'Neill nicht ankommen — geschweige den eine so affektierte Sängerin des „deutschen Liedes“ wie Barbara Bonney. Hätte man nur sie gehört, man würde sich fragen, weshalb das Lied überhaupt noch Zuhörer findet. Doch dann kam, für einen Kollegen einspringend, Andreas Schmidt aus Berlin. Und seine „Schöne Müllerin“ war der Beweis dafür, daß Lied durchaus aufregend sein kann.

Ebenfalls aus Berlin kam die einzige deutsche Theaterproduktion: „Ein Traum, was sonst?“ mit Edith Clever in der Regie von Hans-Jürgen Syberberg (von ihm lief außerdem eine Retrospektive beim gleichzeitigen Film Festival). Es war mit Sicherheit die Aufführung mit dem höchsten Prozentsatz an Zuschauern, die vorzeitig das Theater verlassen. Auf deutsch aufgeführt (wer den englischen Text am Eingang erworben hatte, stellte spätestens in der Dunkelheit des Zuschauerraums fest, daß er ihm nichts nützte), mit schier endlosem Schweigen auf der Bühne und überlanger Aufführungsdauer war es mehr, als viele Zuschauer ertragen wollten. Ihr passiver Protest war keine Reaktion, über die sich McMaster den Kopf zerbrechen würde. Zu seinem Konzept gehört nun einmal das „internationale Theater“. Und wem das nicht gefällt, der kann sich ja in das leichter zugängliche Tanztheater setzen. Sei das nun eine Flamenco-Show des Ballet Cristina Hoyos (frisch eingeflogen von der Olympiade in Barcelona — wer konnte da widerstehen?) oder die Avantgarde-Gruppe des Mark Morris aus den USA. Während Flamenco in Schottland nur lauwarm aufgenommen wurde (wie sollte der auch seine Wirkung entfalten — eingesperrt in einen häßlichen, zum Theater umgebauten Kinosaal?), war die Mark Morris Dance Group ein Publikumsrenner und Liebling der Kritiker, die ihn gleich zweifach auszeichneten. Zumindest bei der Choreographie der Purcell-Oper „Dido and Aeneas“ war diese Auszeichnung allerdings nicht nachvollziehbar. Daß Morris nicht darauf verzichten konnte, die weibliche Hauptrolle zu übernehmen, war mehr als störend und schien weniger seiner tänzerisch-dramaturgischen Überzeugung zu entspringen als vielmehr seinem übermächtigen Selbstdarstellungsbedürfnis.

Pech für Mark Morris, daß er sich mit der Ehre der Auszeichnung und einer Flasche Whisky begnügen mußte. Die lukrativen Preise gingen an andere Aufführungen. Vier Preise waren zu vergeben — angeblich die höchstdotierten, die jemals bei einem internationalen Festival zu erringen waren: zwei Hauptpreise à 60.000 Mark, und zwei Nebenpreise von je 15.000 Mark. Gestiftet wurden sie vom japanischen Millionär und Kunstmäzen Zenyo Hamada, der seit 25 Jahren das Festival sponsort.

Der Preis für die Sparte Theater ging an die katalanische Produktion von Els Joglars „I have an Uncle in America“ — passend zum Kolumbus-Jahr. Mit dem anderen 60.000-Mark-Preis (für die beste musikalische Aufführung) wurde „Moses und Aaron“ ausgezeichnet, die Eröffnungsvorstellung des Festivals, die im Vorfeld für Skepsis und Spott gesorgt hatte. Abgesehen von Kritikern und einer kleinen Anzahl von Musikliebhabern löste der Name Schönberg beim größten Teil der Festspielbesucher eher den Fluchttrieb aus. Hätte McMaster die Aufführung nicht zur Eröffnung auf den Spielplan gesetzt — der Saal wäre nicht einmal halbvoll gewesen. Von den Sponsoren hieß es, sie seien so verärgert über diese Oper, bei „der man nicht mitsingen kann“, daß sie sich ernsthaft die Frage stellten, ob sie im nächsten Jahr noch Geld zur Verfügung stellen für McMasters Experimente.

Doch ist „Moses und Aaron“ zu Recht prämiert worden. Es war ohne Zweifel sowohl vom Werk an sich als auch von der Qualität der Aufführung ein Highlight des Festivals. Und davon gab es nicht allzuviele in diesem Jahr. Eine Tatsache, die von den Verantwortlichen unter anderem damit entschuldigt wird, daß es immer noch kein Theater in Edinburgh gibt, daß ausreichend ausgestattet ist, um gute (szenische) Opernaufführungen zu ermöglichen.

Warten wir ab, ob das Festival wirklich so viel reizvoller wird, wenn das geplante Festival Theatre 1994 eröffnet wird. Ob dann tatsächlich die ersehnten berühmten Operngruppen in den Norden reisen, ob dann wirklich der Spielplan so aufregend wird, daß das Publikum aus dem Ausland in Scharen angelockt werden kann. In diesem Jahr war das nicht der Fall. Die Konzert- und Theatersäle waren nur zu 63 Prozent ausgelastet, das Defizit vom letzten Jahr konnte nicht ausgeglichen werden. Und wenn auch die schottischen Medien tapfer zu ihrem Festival stehen — südlich von Edinburgh fragten sich die Kritiker, ob es denn überhaupt noch der Mühe wert sei, für dieses Festival von London nach Schottland zu reisen. Sicherlich ist diese Beurteilung übertrieben, denn es gab sehr gute und hörenswerte künstlerische Einzelleistungen. Doch sollte sich McMaster fragen, ob das für ein internationales Festival ausreicht.

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