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Unter der Eierschale steckt des Radls Kern

7. Europameisterschaft der Liege-RadlerInnen im Münchener Olympia-Park: Auf dem besten Weg zur Öko-Formel-1  ■ Aus München Ullrich Christ

Was ist eine mangine, eine „Menschine“? Das Kunstwort, aus Mensch und Maschine gebildet, regt zum Philosophieren an. Als der britische Human-Powered-Vehicles- Verband (hpv) ein eingängiges Wort für die gemeinten „muskelgetriebenen Fahrzeuge für Menschen“ suchte, fand dieser Begriff keine Mehrheit. Recumbant bikes — auf deutsch: Liegeräder — sind keine Modeerscheinung wie die Mountainbikes, sie sind das (Zwischen-) Ergebnis angestrengter Überlegungen, wie mensch das Ausnutzen seiner Pedalkraft optimal gestalten könne.

Schon 1893 kam der Mensch auf die Idee, mit dem Rücken in einem Sessel sitzend sich nach vorne zu strampeln, im sogenannten Automobil sind verkümmerte Reste dieser Idee zu finden.

Beim Fahrradfahren kommt der Wind immer von vorn, so lautet die eine Radlerweisheit, und zweitens müsse man nach oben buckeln und nach unten treten. Da sich hierzulande um diese Normalradler bereits ein gut durchtrainierter Verband kümmert, beschäftigt sich der hpv Deutschland fast ausschließlich mit den Liegerädern. Deren Besonderheit: Hier wird nach vorne getreten und nach hinten verkleidet. Denn Liegeräder werden neben den Gesichtspunkten Sicherheit und Komfort auf das Erreichen hoher Geschwindigkeiten hin gebaut, und dies geschieht vor allem durch Ganz- und Teilverkleidungen nach aerodynamischen Gesichtspunkten.

Bei Normalrädern feilen Techniker seit Jahren an aerodynamischen Feinheiten, um Sekunden-Vorteile bei Rennen herauszuschinden. Das Liegerad ist flacher, hat einen niedrigen Schwerpunkt und bietet sich derartigen Spielereien geradezu an. Wetterschutz für die Pedaleure ist hierbei ein Haupt-Nebeneffekt, im Nu sind weitere Verwendungsmöglichkeiten für die Glasfaser-Karosserien gefunden: Die Firma Kingcycle etwa hat aus der Heckverkleidung ein abschließbares Gepäckfach gemacht. Fahrradrennen als Test für den Alltag?

Am vergangenen Wochenende nun klingelte der hpv seine buntgescheckte Gemeinde nach München zur 7. Europäischen Meisterschaft. Es kamen die Steckenpferde und Hexenbesen, die Easy-Rider und City- Hopper, die Kabinen-Trikes und die rumpelnd dahinjagenden Windeier, und sie kamen aus England, Holland, Frankreich, Dänemark, Litauen und der GUS, also allen Ländern mit Liegerad- Tradition. Und der Münchener Olympia-Park konnte sein 20jähriges Jubiläum mit diesem Glanzlicht schmücken.

Für den „exklusiven Club der Genießer“ (Selbstbezeichnung des britischen Verbandsobersten) war es das übliche Familientreffen. Doch die professionelle Kulisse an der Regattastrecke in Oberschleißheim und im Velodrom neben dem Olympia- Zelt machte die Umbruchsituation, in der sich die Liegerad-Szene befindet, deutlich.

Wurden die Menschinen bislang vor allem von ihren Erbauern persönlich in Rundstreckenrennen, Geschicklichkeitsprüfungen und Sprintläufen getestet, so fahren heute immer mehr deren Söhne und Frauen oder eben von diesem neuen Radsport begeisterte Käufer eines Serienrades bei Wettkämpfen zu Erfolgen. Bei dieser Europameisterschaft wurde nach einem Modus gefahren und gewertet, der nur nach verkleideten und unverkleideten Fahrzeugen unterscheidet. Weder die Konstruktion des Fahrzeugs noch die Kondition der FahrerInnen wurde berücksichtigt.

Bei den Rundstreckenrennen splittete sich das Feld auf in die vollverkleideten Straßenzeppeline, die mit 80 Höchst- und über 50 Stundenkilometern Durchschnittsgeschwindigkeit dahinsausten, und in die teilverkleideten Rennbesen, die mit 62 bzw. 43 km/h über die Piste fegten. Die verkleideten Dreiräder konnten jenen zuweilen noch Paroli bieten. Doch fanden sie sich aufgrund des höheren Gewichts meist mit den unverkleideten trikes in der großen Schar der überwiegend auf Alltagstauglichkeit gebauten Prototypen mit Geschwindigkeiten zwischen 50 und 38 km/h wieder.

Die Münchener EM hatte ihre Stars: Das französische Team um den Design-Professor Benoit Saint- Venant mit dem Fahrer Laurent Delcroix siegte über 25 Kilometer, 5.000 Meter und 200 Meter „fliegend“. Die einzige Frau des Teams, Caroline Saint-Venant, fuhr zudem noch auf einem teilverkleideten Kurzrad den Titel über 5.000 Meter heraus. Seit einem Jahr ist die Gruppe zusammen, vor drei Monaten wurden ihre Fahrzeuge fertig.

Die hpv-Gemeinde konnte, auch was den Publikumszuspruch betrifft, mit der Veranstaltung zufrieden sein. Die Organisationsmängel wurden durch die Routine der unterstützenden Olympia-Park GmbH und der RSG München lächelnd überspielt. Die Organisatoren kommender Meisterschaften müssen jedoch, so wurde immer wieder unter den Teilnehmern diskutiert, den hier sichtbar gewordenen Trend aufgreifen: Wettbewerbsklassen sollten ähnlich wie beim Motor-Rennsport geregelt werden, zugleich jedoch müßte der familiäre Charakter einer Bike-Show erhalten bleiben. Dann sind gleichermaßen spannende Velomobil-Rennen zu erwarten, mit sportlichem Reiz, mit lärm- und gestanklosem Unterhaltungswert. Die ökologische Formel 1 (2, 3, 4...) ist im Kommen.

Einen Anfang machte der Schweizer Mark Wyss mit seinem Eigenbau, der den Rekord der Olympia- Bahn in der Kategorie „1.000 Meter stehend“ ohne irgendein Bahntraining auf 1:02.00 Minuten schraubte. Etwas bleich stieg er aus seinem Geschoß, denn durch die Verkleidung in der Sicht behindert, sah er in jeder Steilwandkurve nur eine helle Wand.

Den als Mr. Lotus bekannten Konstrukteur Mike Burrows konnte sein dritter Platz in dieser Disziplin kaum stören: Ein anderes Rad aus seiner Schmiede brachte den Briten Christopher Boardman in der 4.000-Meter-Einzelverfolgung in Barcelona zu olympischem Gold.

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