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Brandt will UN stärken

Bewegende Grußadresse des scheidenden Präsidenten beim Kongreß der Sozialistischen Internationale  ■ Aus Berlin Dorothea Hahn

„Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer.“ Diesen Rat gab der scheidende Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) Willy Brandt gestern seinen „lieben Freunden“ zur Eröffnung ihres Kongresses in Berlin. Persönlich konnte der schwer krebskranke 78jährige nicht nach Berlin kommen. „Es sollte nicht sein“, schrieb er wehmütig in dem Brief, den er in seinem Haus in Unkel bei Bonn verfaßt hat, das er seit Monaten nicht mehr verlassen konnte. Jochen Vogel verlas— stockend und sichtlich bewegt — die Botschaft. Die 620 Delegierten nahmen es auf wie einen Abschied des großen alten Mannes, der 16 Jahre lang Präsident der SI war. Sie dankten mit stehenden Ovationen — viele mit Tränen in den Augen.

Brandt warnte seine Internationale vor Optimismus. Die heutige Zeit stecke „wie kaum eine andere zuvor voller Möglichkeiten — zum Guten und zum Bösen“. Der Frieden müßte erst wiederhergestellt werden. Als zunehmend wichtiges Instrument empfahl er die UNO.

Brandts Lieblingszögling, der spanische Premierminister Felipe Gonzalez, leitet die dreitägigen Beratungen der 88 SI-Mitgliedsparteien und ihrer Gäste aus insgesamt 132 Ländern. Gestern stand die Standortbestimmung der „Sozialdemokratie in einer sich wandelnden Welt“ auf der Tagesordnung. Am Mikrofon problematisierten ParteiführerInnen vor allem Nord-Süd- Konflikte. SPD-Chef Engholm versprach, seine Partei werde kämpfend verhindern, daß in Deutschland wieder Nationalismus und Rechtsradikalismus die Politik bestimmen. Die Rede des griechischen Oppositionsführers Papandreou war offensichtlich im letzten Moment glattgebügelt worden. Den im Pressetext noch ausgedruckten kritischen Passus über die Maastrichter Verträge trug er jedenfalls nicht vor. Ursprünglich wollte er von Maastricht als einem „sozialdemokratischen Versagen“ sprechen.

Zahlreiche Delegierte, die in Berlin über Menschenrechte und internationale Solidarität debattieren, haben in ihren Heimatländern Regierungsverantwortung. So auch Erdal Inönü, der in Ankara als Vizeministerpräsident mitverantwortlich für die Militäreinsätze in Kurdistan ist, bei denen ganze Städte zerstört wurden. Draußen vor dem Reichstag protestierten KurdInnen gegen den „Mörder Inönü“. Drinnen jedoch waren türkische KurdInnen überhaupt nicht vertreten: Die SI hatte zwar die irakischen Kurdenführer Talabani und Barzani eingeladen, nicht aber die — sozialdemokratische — Arbeitspartei des Volkes HEP aus türkisch Kurdistan.

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