: Ich sitze nicht auf Dächern...
■ Noch ein Beitrag zur Kontroverse Boock-Interview — Jauerniks Stellungnahme (taz vom 12.7. und 25.8.92)
Um es vorwegzunehmen: ich weiß so wenig wie Micha und all die anderen „Überzeugten“, was in jener Nacht in Stammheim geschah. Auch ich gehe davon aus, daß Boock bei entsprechenden Zugeständnissen die Parole vom Selbstmord bedenkenlos propagieren würde, auch davon, daß es solche Lösungsvorstellungen seitens des Staates in der damaligen Situation gab. Vielleicht reichten diese Vorstellungen soweit, daß es nur noch um die Frage des Wie ging.
Klar war, daß der Tod der Gefangenen national wie international Spekulationen, Nachforschungen etc. auslösen würde. Das Ganze wäre wesentlich professioneller inszeniert worden. Beispielsweise hätte man die Schalldämpfer ganz einfach dagelassen, wenn die Selbstmordvariante lautlose Schüsse erfordert. Beispielsweise hätte eine Irmgard Möller diese Nacht nicht überlebt. Eine überlebende Zeugin für Mord ergäbe keinen Sinn. Die Mitnahme der Schalldämpfer ergäbe keinen Sinn. Oder waren Laien am Werk? Reguläres Vollzugspersonal? Jeder von diesen könnte reich werden, wenn er sein Schweigen bricht. Oder sind die Killer gestört worden?
Wie gesagt, ich weiß es nicht. Ganz so einfach, wie Micha es sich macht, liegen die Dinge allerdings nicht. Ich gebe gern zu, es hat etwas: der Staat geht in die Gefängnisse und killt Gefangene! Ganz konkretes Morden, mit echten Toten. Endlich Sichtbarkeit dessen, was sie so treiben in den Knästen mit den Gefangenen. Und doch: Wishful-Thinking!
Ihre Methoden des Tötens sind subtiler auf viele Jahre verteilt und ohne Leichen. Zugegeben, ihre Methoden des Tötens reichen mitunter soweit, daß du dem Tod Konkretheit gibst, soweit, daß der konkrete Tod die einzige und letzte Mölgichkeit ist, wenigstens als etwas Lebendiges zu sterben. Vielleicht sind die Stammheimer Gefangenen und viele andere ja daran gestorben? Die Selbsttötung, gebliebener Rest der Möglichkeit: Leben!
Der Revolutionär Micha Jauernik und Gefolgschaft wird mir natürlich entschieden widersprechen. Der ist sauer, weil er keine Interviews geben darf. Der Mann hat soviel gelesen über revolutionäres und Weltinterpretation und würde gerne aufklären, bekämpfen, was nicht zu bekämpfen ist. Tucholsky hat sich umgebracht. Brechts Revolution fanden auf Bühnen statt, nicht in der Wirklichkeit. Sartre lebte in der „Hölle“ und blieb am Leben trotz der gewonnenen Erkenntnis, daß das Leben sinnlos ist.
Michael Jauernik sitzt auf Dächern und beneidet Boock um seine „Tussis“, um seine Publicity, darum, daß er in der ersten Reihe sitzt bei Konzerten. All das, während er 23 Stunden Zellenhaft schiebt. Zum Glück geschieht all das mit Geist und Bewußtsein.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: ich bin kein Freund von Boock. Wo Boock sitzt, ob beim Pfarrer oder in der ersten Reihe, interessiert mich herzlich wenig. Ich bin gegen Knäste und somit zwangsläufig dafür, daß er rauskommt. Er wie alle anderen! Meine mittlerweise 10-jährige Knasterfahrung sagt mir, daß Knast ganz einfach Scheiße ist und absolut niemandem nützt. Diese gewonnene Erkenntnis schließt einen Boock wie einen Micha Jauernik ein.
Ein paar Jahre zuviel, denkt vielleicht mancher. Richtig, ich sitze nicht auf Dächern, auch nicht beim Pfarrer, schon gar nicht in der ersten Reihe. Ich kann nichts revolutionäres darin sehen, in Absonderung zu sitzen und anzufangen, die Welt zu hassen. Und man beginnt damit, weil sie aus dieser Perspektive hassenswert erscheint.
Ich habe nichts gegen Dächer. Würde ich daran glauben, daß sich durch das Sitzen auf Dächern etwas verändert, würde ich mein Leben auf solchen verbringen.
Man kann denen, die den Status Quo aufrecht erhalten, auf zwei Arten sehr ähnlich werden. Man akzeptiert die Spielregeln ihrer geschaffenen Wirlichkeit, so wie sie sich für einen Gefangenen darstellt und wie er sie erlebt. Diese Akzeptanz der erfahrbaren Wirklichkeit führt dazu, daß man auf alles scheißt: Humanität, Menschenwürde, Respekt vor der Freiheit, vor dem Leben, der körperlichen Unversehrtheit, Mitleid, Mitgefühl, Liebe in jeder Form. Alles menschlich positive wird zum Witz, zur Illusion. Die erfahrbare Wirklichkeit beinhaltet nichts menschlich Politives und irgendwann verinnerlicht man diese Wirklichkeit. Sie wird zur inneren und eigenen. Nietzsche läßt grüßen!
Die andere Möglichkeit, ihnen ähnlich zu werden, besteht im verzweifelten Negieren der Wirklichkeit. Man lebt im Dunst der Lügen und des Scheins, verbreitet durch ein wohlklingendes STVG, Stellungnahmen, Statements in PR-Aktionen.
Die erste Art führt zu 23 Stunden Zellenhaft, zu solchen Leserbriefen wie dem von Micha. Sie führt nicht zur Revolution. Die hat sich in der Regel erledigt, sobald man draußen ist. Die zweite führt in die erste Reihe und öffnet die Türen zur Anstaltsleitung. Revolution Fehlanzeige! Sie haben dich da, wo sie dich haben wollen, in beiden Fällen! Ob du nun an deiner Ohnmacht erstickst, weil sie dir die Luft zum Atmen nehmen, oder ob sie dir die Selbstachtung genommen haben, es bleibt sich gleich. Du bist ihr Produkt und sie benutzen dich. Vorzeigeobjekt für ihren erfolgreichen Resozialisierungsvollzug oder eben das Gegenteil, das personifizierte Böse schlechthin. Politik, Freunde — nichts weiter!
Verändern kann man nur aus einer Position heraus, die sich jenseits der Gefangenschaft befindet. Es setzt andere Machtverhältnisse voraus, als jene, die im Knast existent sind. Das Problem besteht darin, daß der Wille zu verändern, mit der persönlichen Betroffenheit, die man erfährt, endet. Man überläßt das Engagement dann Knastgruppen und idealistischen Einzelkämpfern.
Die BRD beherbergt permanent 50.000 Knackis. Diese stellen lediglich 5 Prozent der „Kriminellen“ dar. Wo sind all die anderen? Wo werden wir sein, wenn der Knast vorüber ist? Darüber sollten wir uns alle mal ein paar Gedanken machen. Auch darüber, wie das zu ändern ist.
Arthur Bayer
JVA Mannheim
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