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Schocktherapie statt Kunstgenuß

■ Das Musical „Der Mann von La Mancha“ hatte im Schauspielhaus Leipzig Premiere

Don Quixote — ein gebrochener Mann. Im dunkelgrünen Büßermantel sitzt er am Bühnenrand, will am Fortgang der Handlung nicht mehr beteiligt sein. Sein Diener Sancho versucht ihn aufzubauen: Ein Zurück sei nicht mehr möglich, er möge seiner Mission folgen. Quixote gehorcht und was dann folgt, ist ein wahnwitzig brutaler Terror im Namen seiner „weltverbessernden“ Ideale. Hier wird gemordet, gehurt und vergewaltigt; als Begleitmusik läuft die Litanei vom Goldenen Zeitalter.

Die Szene stammt aus einer Inszenierung, die am Sonnabend im Schauspielhaus Leipzig Premiere hatte — Dale Wassermanns Musical „Der Mann von La Mancha“. Auf der Bühne ist vom traurig resignativen Ansatz dieses 1965 im Anta Washington Theatre New York uraufgeführten Musiktheaterstück indes nichts zu sehen. Die Regisseurin Konstanze Lauterbach hat das Material lediglich als Vorlage genutzt, um einen Abgesang auf die Umsetzung hehrer Ideale zu inszenieren.

Über einer mehrfach verschachtelten Spielidee („Theater im Theater“) kreist vor der Theaterpause vor allem Langeweile; die wenigen Musiknummern wurden in schlechten Arrangements heruntergenudelt; die auf zehn Musiker reduzierte Kapelle bot nur ein kümmerliches Fragment der Originalmusik. Diese fast penetrant eingesetzte szenische und musikalische Armut scheint von der Regisseurin dahingehend kalkuliert zu sein, nach der Pause mit um so größerer Fallhöhe zu arbeiten. Denn was danach geschah, produzierte einen in Leipzig noch nicht erlebten Theaterskandal. Gellende Buhrufe und Pfeifkonzerte, demonstratives Türenschmeißen von wütend die Premiere verlassenden ZuschauerInnen, eine vielstimmige Wortschlacht unter den BesucherInnen mit Verweisen auf die späten Stunden von RTLplus, weinende Frauen. Auslöser war eine Szene, die in ihrer direkt vermittelten Brutalität auf den Brettern ostdeutscher Theater noch nicht zu sehen war: Aldonza (Martina Eitner) wird von fünf Herren sämtlicher Kleidung entledigt, vier Männer spreizen ihre Gliedmaßen und verhelfen einem Mann somit zu einer erschreckend realistisch gezeigten Vergewaltigung. Im Bühnenhintergrund steht ihr Geliebter,Don Quixote, und redet zur gleichen Zeit vom Goldenen Zeitalter: eigentlich eine Lektion über den Aufbau von Bühnenspannung. Im Leipzig 1992 allerdings mehr. Denn die ZuschauerInnen erleben im Theater, was sich im Alltag bereits manfestiert hat: brutale Gewalt gegen Schwächere — und Menschenmassen schauen, Voyeuren gleich, auf den Fortgang der Handlung. Das wollte ein Teil der ZuschauerInnen im Theater nicht auf sich sitzen lassen; für andere erfolgte an dieser Stelle ein ästhetischer Bruch in der Regiearbeit. Darüber mag gestritten werden, weil fraglos ist, daß sich die Kunst hinter pur vermittelter Realität versteckte. Konstanze Lauterbach hat Theatermachen mit dieser Inszenierung umfunktioniert: Schocktherapie anstelle von Kunstgenuß. Vielleicht sind die Zeiten danach — wenn die ZuschauerInnen dann noch ins Theater kommen.

Ideale, je edler in der Theorie, schlagen um so brutaler ins Leben zurück, wenn eineR versucht, sie in die Praxis umzusetzen. Bernd Stübner, der der Rolle des Don Quixote leider an keiner Stelle musikalisch gerecht wird, spielt diesen am Ende wahnsinnigen Weltverbesserer, der auf Umwelt nicht mehr reagieren kann. Mit seinem Bühnenabgang fallen immer mehr Vorhänge, und im Hintergrund werden verkleinerte Nachbildungen des großen Bühnenraums sichtbar.

Am Ende, auf der leeren Bühne: die am Spiel beteiligten Personen, die alle unter Don Quixotes Herrschaft gelitten haben, flüstern, gealtert und mit schlohweißen Haaren, rückblickend vom aufregenden Leben unter Don Quixote. So schlecht waren die Zeiten doch gar nicht. Nostalgie à la Ostdeutschland.

Nach dem Fallen des Vorhangs eine Schlacht zwischen Mißfallenskundgebungen und stehenden Ovationen. Lutz Stordel

Nächste Aufführungen am 24. und 25.9.

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