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Zerrissenes Kurdistan

Die Kurden in Irak und Türkei stehen vor einem Bruderkrieg  ■ AUS ZAKHO THOMAS DREGER

Es gehört viel guter Wille dazu, um Qumri ein Dorf zu nennen. Die kurdische Siedlung im Norden Iraks, acht Kilometer südlich der Grenze zur Türkei, besteht aus zwei festen Steinhütten, vier Zelten und gut zwei Dutzend Unterständen aus Pfeilern und Zweigen.

Dennoch sprechen die rund fünfzig Bewohner stolz von „unserem Dorf“. Qumri gehört zu den etwa 5.000 kurdischen Ortschaften, die Ende der 80er Jahre auf Befehl Saddam Husseins dem Erdboden gleichgemacht wurden. Im Rahmen dieser „Anfal-Kampagne“ genannten Operation wurden die Häuser geschliffen, ihre Bewohner ermordet oder deportiert.

Seitdem die Golfkriegsalliierten im Frühjahr 1991 das nördlich des 36. Breitengrades gelegene irakische Staatsgebiet zur Schutzzone erklärten, sind die meisten überlebenden Bewohner Qumris zurückgekehrt. Praktisch ohne Hilfe von außen versuchen sie, ihr Dorf wieder aufzubauen, bevor der Winter die Berglandschaft wieder unter meterhohem Schnee begräbt.

Außer dem nahenden Frost und schlechter Lebensmittelversorgung droht den Bewohnern Qumris eine weitere Gefahr. Immer wieder überqueren türkische Kampfflugzeuge Gebiete in unmittelbarer Nähe. Die Piloten jagen Guerilleros der türkisch-kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), die von irakischem Territorium aus zu Angriffen auf das türkische Militär aufbrechen. Mehrere Dörfer in der Nähe Qumris wurden bereits bei türkischen Luftangriffen beschädigt, einige Bewohner durch Bomben getötet.

„Eigentlich ist es ein Wunder, daß hier noch keine Bomben niedergegangen sind“, meint Salah, ein Einwohner des Dorfes. Er kennt die PKK, der die türkischen Angriffe gelten: Ihr Rückzugsgebiet liegt nur eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt in den Bergen.

Etwa drei Kilometer hinter Qumri lagern an einer Wasserstelle sechs mit Kalaschnikows bewehrte, uniformierte Männer. An den mit Apo beschrifteten Munitionstaschen und den rot emaillierten Anstecknadeln mit den drei Buchstaben PKK sind sie unschwer als Mitglieder der Guerilla zu erkennen. Der Jüngste unter ihnen ist höchstens 15 Jahre alt. An seinem Gürtel baumeln zwei Handgranaten, in der Hand hält er eine Maschinenpistole. Die anderen sind älter; einer von ihnen trägt einen langen Vollbart, was ihm eine verblüffende Ähnlichkeit mit Fidel Castro verleiht.

„Die Bevölkerung hier mag die PKK“, erklärt der Wortführer der Gruppe. Nicht in allen irakisch-kurdischen Dörfern seien ihre Aktivitäten beliebt — aber vor allem in der Grenzregion habe die Organisation viele Sympathisanten. Als das Donnern eines herannahenden Flugzeuges erklingt, winkt er ab. Am Klang hat er es als eine Maschine der Golfkriegsalliierten erkannt, die regelmäßig Patrouille fliegen.

Als das Gespräch auf die beiden großen irakisch-kurdischen Parteien kommt — „Demokratische Partei Kurdistans“ (KDP) und „Patriotische Union Kurdistans“ (PUK) unter den Vorsitzenden Massoud Barsani und Dschalal Talabani — verfinstert sich seine Miene. „Talabani und Barsani sind keine kurdischen Führer. Sie verkaufen unsere kurdische Organisation für ein bißchen Brot und Zucker an die Türkei.“

Besonders empören ihn die regelmäßigen Besuche der beiden Chefs in Ankara, während gleichzeitig das türkische Militär Kurden massakriere. Nach seiner Ansicht sind die Kurden im Nordirak nach ihrer Befreiung von der Unterdrückung Saddam Husseins verpflichtet, der PKK bei ihrem Kampf zu helfen. Dementsprechend empfindlich reagieren die PKKler auf die Frage, wann sie denn wieder über die Grenze „in die Türkei“ gehen werden. „Wir gehen nicht in die Türkei. Wir gehen von Kurdistan nach Kurdistan“, lautet die Antwort, bevor sie ihre Gewehre nehmen und nach Norden verschwinden.

Die Bewohner Qumris beobachten die Aktivitäten der PKK vor ihrer Haustür mit gemischten Gefühlen. „Wir haben kein Verhältnis zur PKK. Sie haben ihre Arbeit, wir haben unsere“, meint Salah. Sein Vater kennt die Verhältnisse in Türkisch- Kurdistan aus eigener Anschauung und hat daher für die PKK eher Verständnis. Während der Anfal-Kampagne floh er in den Nachbarstaat. Vier Jahre und 17 Tage lebte er in der Nähe der Stadt Mardin in einem stacheldrahtumzäunten Flüchtlingslager, wie im Gefängnis. Schon bald sei ihm die Erkenntnis gekommen, daß „die türkische Polizei noch schlimmer ist als die irakische“.

„Wir wollen hier endlich friedlich leben und unser Dorf aufbauen“, meint dagegen Salahs Bruder. „Die PKKler sind Kurden wie wir, und wir werden sie nicht verjagen. Aber wir hoffen, daß sie ihre Angriffe von unserem Territorium eine Weile einstellen.“

In Zakho, dem 50 Kilometer entfernten Grenzort auf irakischer Seite, ist die Stimmung ungleich aggressiver. Die PKKler gelten hier als „Terroristen“ und „Kindermörder“. Die Bewohner der Grenzstadt haben noch gut in Erinnerung, wie die Guerilla vor gut einem Monat den Nachschubweg aus der Türkei nach Irakisch-Kurdistan abriegelte. Weil die irakisch-kurdischen Parteien sich weigerten, ihren Kampf zu unterstützen, drohte die PKK, auf jeden LKW zu schießen, der Hilfsgüter über die Grenze bringen wollte. Für zwei Wochen war die Lebensader Zakhos unterbrochen — und das türkische Militär bekam demonstriert, wie wenig es die eigene Staatsgrenze kontrolliert. Dann informierte die PKK auf Flugblättern, daß die Grenze „aus humanitären Gründen“ wieder geöffnet werde.

Die Feindseligkeit hat auch historische Ursachen. Als noch das Regime Saddam Husseins die Region kontrollierte, unterhielt die PKK in Zakho eine Art Büro: Im zentral gelegenenen „Bagdad-Hotel“ hatten PKKler eine permanente Residenz.

Schon damals hatten die irakischen Kurden den Verdacht, daß die PKK enge Kontakte zu den irakischen Behörden pflegte. Während des irakisch-kurdischen Aufstandes nach dem Golfkrieg stürmte die aufgebrachte Bevölkerung die Büros des irakischen Geheimdienstes in Zakho und der nahegelegenen Provinzhauptstadt Dohuk. Sie fand streng geheime Akten, die die Zusammenarbeit belegen: Nach den im November und Dezember 1990 — also nach der Besetzung Kuwaits — verfaßten Papieren, die der taz vorliegen, erhielt die PKK Waffen und Geld, ihre Aktivisten durften sich frei bewegen. Im Gegenzug versorgte die PKK den Irak mit Informationen über die Aktivitäten der alliierten Truppen in der Türkei.

Die PKKler auf irakischem Gebiet wurden von dem Kurdenaufstand im März 1991 völlig überrascht. In den meisten Fällen verhielten sie sich neutral. Einige schlugen sich auf die irakische Seite, aber mindestens einmal retteten PKKler fliehende irakische Kurden, indem sie auf irakische Soldaten schossen.

Nun droht der Konflikt zwischen irakischen und türkischen Kurden weiter zu eskalieren. Im letzten Frühjahr kündigte die PKK an, noch in diesem Jahr eine „Kriegsregierung“ in Gebieten auf beiden Seiten der Grenze zu installieren. Während die PKK den Norden Iraks als Basis für einen gesamtkurdischen Staat betrachtet, wollen die in der „Kurdistan-Front“ zusammengeschlossenen irakisch-kurdischen Parteien den auf ihrem Territorium erreichten Status quo erhalten und ausbauen (siehe Kasten).

Am 3. August verabschiedete die irakisch-kurdische Regierung eine Resolution, die die PKK als „feindselige Kraft“ einstuft, die „nach dem Willen und im Interesse der Feinde der Kurden“ agiere. Sie wirft der PKK ferner vor, die Rückkehr vertriebener irakischer Kurden in ihre Dörfer zu verhindern. Besondere Verstimmung verursachen Berichte, daß die PKK noch immer Ausbildungslager auf von Bagdad kontrolliertem Territorium unterhalte.

Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten die Spannungen Ende August, als etwa 30 Mitglieder oder Sympathisanten der PKK in Erbil vor der Bezirksverwaltung aufmarschierten, um gegen das von türkischem Militär verübte Massaker im türkisch-kurdischen Sirnak zu demonstrieren. Nach Augenzeugenberichten eröffnete eine Demonstrantin auf irakisch-kurdische „Peschmerga“ das Feuer. Bei der anschließenden Schießerei wurden fünf bis sechs Personen getötet.

Mitglieder der KDP vergleichen inzwischen den PKK-Chef Abdullah Öcalan mit Saddam Hussein und übernehmen in ihren Ansichten über die Situation in Türkisch-Kurdistan die Versionen des türkischen Militärs. Ein KDP-Pressevertreter sagte wörtlich: „Für die Toten und die Zerstörung von Sirnak ist ausschließlich die PKK verantwortlich.“ Und an der Basis von PUK wie KDP hört man Stimmen, die die Regierung in Ankara als „demokratische Alternative zu Bagdad“ preisen.

Auf türkisch-kurdischer Seite fällt es schwer, solche Lobeshymnen als notwendige Diplomatie zur Aufrechterhaltung der Versorgungswege zu rechtfertigen. In den türkisch-kurdischen Städten Cizre und Silopi überwiegt die Befürchtung, daß demnächst irakische und türkische Kurden aufeinander schießen werden. Diese Angst scheint realistisch zu sein: Der irakisch-kurdische Miniterpräsident Dr. Fuad Massoum (PUK) kündigte gegenüber der taz an, in den nächsten Wochen würden irakisch-kurdische „Peschmerga“ (Freiheitskämpfer) an der Grenze zur Türkei stationiert werden. Die sollten dafür sorgen, daß nur noch solche Personen die Grenze überqueren, „die die Gesetze Irakisch-Kurdistans respektieren“.

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