: Mörderische Meinungsfreiheit
■ Auch eine liberale Gesellschaft muß verhindern, daß Medien und Politiker zum Fremdenhaß anstacheln
Sind die Angriffe auf AusländerInnen ein Zeichen dafür, daß die Deutschen xenophob sind, oder sind sie eine unvermeidliche Reaktion der Bevölkerung auf die Ankunft eines Asylbewerbers pro Minute? Beide Antworten sind zu einfach und lassen die heimtückische Tendenz — nicht nur in der BRD, sondern in fast jedem Land mit bedeutendem Ausländeranteil — außer acht, AusländerInnen zu Sündenböcken zu machen.
In der DDR wurde die Existenz von Gastarbeitern offiziell mit „Solidarität gegenüber den Völkern der Dritten Welt“ begründet. Inoffizieller Grund, der der Bevölkerung verschwiegen wurde, war die Tatsache, daß billige Arbeitskräfte für die Jobs benötigt wurden, die die Ostdeutschen nicht machen wollten.
Heute erhebt man dagegen den klassischen Vorwurf, daß die „Wirtschaftsflüchtlinge“ den Einheimischen die Arbeit wegnehmen oder das deutsche Sozialsystem ausnutzen. Presse und Politiker weisen ständig auf die liberalen Asylgesetze hin, die einmalig in Europa seien. Tatsache ist jedoch, daß das Recht auf politisches Asyl in der französischen, spanischen, portugiesischen und italienischen Verfassung festgeschrieben ist, um nur die EG-Länder zu nennen.
In einer demokratischen Gesellschaft, in der Presse- und Meinungsfreiheit heilige Kühe sind, muß man sich fragen, ob diese Freiheiten nicht eine Existenzbedrohung vor allem für AusländerInnen darstellen. Haben Boulevardzeitungen das Recht, den Fall eines Asylbewerbers auszuschlachten, der Sozialhilfebetrug begangen hat? Ist es moralisch gerechtfertigt, 95 Prozent der AsylbewerberInnen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abzutun, nur weil sie nicht bestimmte, festgelegte Kriterien erfüllen und das Pech haben, ihren Antrag in einem Land zu stellen, das ihre Arbeitskraft nicht braucht und sie auch nicht mehr länger für den antikommunistischen Kreuzzug benötigt? Können wir es zulassen, daß PolitikerInnen in ihren Reden AusländerInnen verleumden und Statistiken manipulieren?
Bis unsere Gesellschaft — und nicht nur die deutsche — nicht eine strikte Grenze dort zieht, wo Meinungsfreiheit aufhört und Aufstachelung zum Rassenhaß beginnt, wird die Schar der TäterInnen in Rostock und anderen Städten wachsen, wann immer soziale Unzufriedenheit herrscht und Grundinstinkte nach Sündenböcken suchen.
In fast allen US-amerikanischen Staaten ist es bei Strafe verboten, grundlos in einem Kino „Feuer“ zu rufen. Lösen Medien und PolitikerInnen mit ihrem Gerede von der Allgegenwart der AusländerInnen nicht die gleiche Art von Panik mit den gleichen, möglicherweise tödlichen Folgen aus? Antonio Cruz
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