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„Gucken, was das Volk bewegt“

■ SPD-Parteichef Björn Engholm zur Änderung des Asylrechts, zum Aufschwung Ost und dem „theoretischen Charme“ einer Ampelkoalition

taz: Oskar Lafontaine fordert, das individuell einklagbare Recht auf Asyl abzuschaffen und nur noch die Genfer Flüchtlingskonvention gelten zu lassen. Will die SPD jetzt — wie die CDU — den Asylrechtsartikel im Grundgesetz endgültig streichen?

Björn Engholm: Über das, was Oskar Lafontaine sagt, müssen Sie mit ihm selbst reden. Es ist nicht Beschlußlage, den Artikel 16 abzuschaffen. Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt ja nicht das Zugangsrecht zum Asyl, sondern das Recht im Asyl, so daß sie nur eine Ergänzung zu dem grundrechtlich gesicherten Anspruch für politisch Verfolgte sein kann. Die Konvention darf das Grundrecht nicht komplett ersetzen.

Aber Sie wollen auf jeden Fall Hand an den Artikel 16 legen.

Wir werden den Versuch unternehmen, eine verfahrensmäßig einwandfreie Trennung zu erreichen: zwischen denen, die auf den Asylverfahrensweg, und denen, die auf einen anderen Weg gehören. Auch diese sollen eine Chance haben, aber eine begrenzte.

Man kann ein Einwanderungsgesetz beschließen ohne Grundgesetzänderung, und man könnte auch eine Kontingentregelung — also den sogenannten B-Status für Kriegsflüchtlinge — einführen, ohne den Artikel 16 zu ergänzen.

Ich bezweifel das. Wenn ich dem individuellen Asylverfahrensrecht nicht ein anderes Verfahren vorschalte, gehen die Menschen automatisch in riesiger Zahl in den Kanal Asyl. Dafür ist dieses Recht nicht geschaffen worden. Für 250.000 bis 300.000 Menschen ist es noch möglich. Ab 400.000, 500.000 ist es nicht mehr machbar. Die Anerkennungszahlen für Asylsuchende rutschen uns mit der Zunahme der Asylbewerber drastisch nach unten. Wir haben einzelne große Gruppen, bei denen die Anerkennungswahrscheinlichkeit gegen Null tendiert. Sie sind alle im Asylverfahren, wo sie eigentlich nicht hingehören. Sie müssen eine andere, begrenzte Chance haben. Keine feste Garantie auf volle Integration. Das kann kein Land leisten.

Bis Petersberg war die Mehrheit der SPD — einschließlich Ihnen — der Meinung, daß das ein Problem der praktischen Bewältigung ist. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

Das ist recht einfach zu erklären: Innerhalb eines Jahres ist die Zahl der Flüchtlinge, die ich in Schleswig- Holstein aufnehmen muß, um 125 Prozent gestiegen. Ich muß in diesem Jahr die Aufnahmekapazität einer Kleinstadt in der Größe von Bad Schwartau schaffen. Das kann ich nicht. Im November werden wir anfangen, in einzelnen Ländern Zwangszuweisungen vorzunehmen, in Gemeinderäume, in Wohnräume, die der Sozialhilfe sonst für Einheimische offenstehen. Dann fürchte ich, ist der Frieden in dieser Frage endgültig dahin.

Aber dieser Zustand ist durch die Änderung des Artikel 16 nicht zu beeinflussen. War nicht auch gerade das Grundrecht auf Asyl für Ihre Partei von hohem Symbolwert für die Demokratie?

Mit Symbolen kann man keine Integrationspolitik betreiben. So wie Enzensberger es in einem Essay formulierte: Die Bergpredigt ist wunderbar, aber sie ist kein politisches Handlungsprogramm. Wer sagt: Laßt die Finger vom Artikel 16, laßt möglichst viele von denen, die in großer Not in der Welt leben, zu uns kommen — ohne die materiellen Ressourcen aufzuzeigen — ist eigentlich nicht glaubwürdig. Wenn wir das Ziel wollen, müssen wir bereit sein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Der Streit in meiner Partei geht ja darum, ob nicht dieses Ziel falsch ist.

Den Zuzug überhaupt zu begrenzen?

Ja. Viele sagen, daß wir die Pflicht haben, alle aufzunehmen. Das ist nicht realisierbar. Es gibt Aufnahmegrenzen in einer Gesellschaft. Die hängen mit Wohnraum, mit Geld und der Integrationsfähigkeit der kommenden und der aufnehmenden Menschen zusammen.

Aber auch mit dem politischen Willen. Man kann Bereitschaft herstellen, und man kann Bereitschaft abbauen.

Sie können Leute nicht zu Bereitschaft überreden. Wir haben unser Sozialsystem insbesondere für die Einheimischen geschaffen. Das sagen Sie den Lesern Ihrer Zeitung nicht deutlich genug. Wenn dieses Netz von weit mehr als 500.000 Menschen pro Jahr zusätzlich in Anspruch genommen wird, bricht es ihnen weg. Es sei denn, sie statten es neu aus. Und diese Neuausstattung haben wir uns untersagt, in dem wir dem Aufbau im Osten Deutschlands den Vorrang gegeben haben.

Ist es denn richtig, die Unterbringung von Flüchtlingen und die Schwierigkeiten mit dem Aufschwung Ost zu verknüpfen?

Ich verknüpfe sie nur aufgrund des Finanzmangels. Die Situation ist nicht erfunden, und sie hat sich dramatisch verschlechtert.

Die SPD wirft Kohl und seiner Regierung seit zwei Jahren zu Recht vor, daß sie den Wählern bei den Kosten der Einheit und dem notwendigen Verzicht etwas vormacht. Dasselbe macht die SPD aber jetzt bei der Flüchtlingsfrage. Sie suggeriert, daß nur die oder die Gesetze gemacht werden müssen, um vor den Armen dieser Welt verschont zu bleiben.

Wir können von den Armen dieser Welt nicht unbehelligt bleiben. Ich will die Zuwanderung im Interesse der Gesellschaft steuerbarer machen. Und ich will zurück zu dem, was die Mütter und Väter der Verfassung mal im Hinterkopf gehabt haben. Was ist politisches Asyl? Was sind politisch Verfolgte? Zugleich will ich deutlich machen, daß diese Gesellschaft — mit der Tendenz zu Null-Wachstum, mit riesigen Transfers von West nach Ost und einer Fülle anderer Verpflichtungen — an die Grenze ihrer Möglichkeiten geraten ist. Das bedeutet nicht, daß ich die Flüchtlingszahlen morgen runtervierteln will.

Trotzdem wäre es Ihre Aufgabe, deutlich zu sagen, daß die Flüchtlinge auf jeden Fall zu uns kommen werden und daß sich die Deutschen daran gewöhnen müssen, mit den Fremden zu leben.

Aber sie leben doch schon über Jahre hinweg mit Anstand und hoher Friedfertigkeit mit einer ganz hohen Zahl von Fremden. Jeder weiß, daß man mit dem Artikel 16 allein den Zustrom nicht grundlegend verändert. Den verändert man langfristig, in dem man da investiert, wo die Menschen leben.

Aber statt das öffentlich zu vertreten, gibt die SPD ein Zeichen in die entgegengesetzte Richtung.

Aber das tut sie doch nicht. Sie ist immer auf der Seite von Ausländern gewesen. Was nicht heißt, daß wir für jeden, der kommt, die Tore weit öffnen können. Selbst bei den Ausländern, die schon lange hier leben, schleicht die Angst um, daß zu viele kommen. Und mit Symbolen ist dann dem Unmut der Bevölkerung nicht mehr beizukommen. Wir sind ohnehin schon auf der schiefen Bahn.

Bis zum Fall der Grenzen in Osteuropa ging es um Flüchtlinge aus der dritten Welt. Jetzt geht es insgesamt um die Entwicklung Osteuropas und des Verhältnisses West- zu Osteuropa.

Man muß großflächig und europäisch abgestimmt — möglichst über Europa hinaus — Entwicklungskonzepte für den Osten Europas erstellen. Einen Marshallplan Osteuropa. Der verhindert zwar auch nicht in jedem Fall, daß die Menschen weggehen, aber er gibt ihnen wenigstens eine Perspektive. Oft fehlen ihnen nur marginale Hilfen von außen. So eine Hilfe wirkt allerdings nicht schon morgen, die muß man auf ein Jahrzehnt anlegen.

Würde denn die CDU einen Marshallplan für Osteuropa mittragen? Sehen Sie die Mehrheit der CDU/ CSU überhaupt noch auf dem Weg zur europäischen Integration einschließlich des Ostens?

Ich glaub' schon.

Die CSU fordert jetzt auch ein Maastricht-Referendum in der Bundesrepublik.

Aber die Christdemokraten stehen in ihrer Mehrheit nach wie vor zu den Verträgen von Maastricht.

Nur weil Kohl sie noch darauf verpflichtet?

Nein, ich glaube, daß die CDU in dieser Frage nach wie vor stabil ist. Unsere Mehrheit und die der FDP auch. Da sehe ich nicht die Gefahr. Wenn in der Bundesrepublik ein Referendum stattfinden würde, sähe es wahrscheinlich anders aus.

Im Moment ist zu befürchten, daß eine Partei rechts von der CDU— egal unter welchem Etikett — bei den nächsten Wahlen in den Bundestag kommt. Verschiebt sich die bundespolitische Achse in Deutschland nach rechts?

In der Tendenz ist es wohl so. Sonst wären die Wahlen in Baden-Würrtemberg und Schleswig-Holstein und die Bezirkswahlen in Berlin anders ausgefallen.

Was heißt das für die SPD?

Die SPD ist an ihren traditionellen Kernbereichen von solchen Entwicklungen durchaus tangiert.

Wird sie auch nach rechts rüberrücken?

Das glaube ich nicht. Aber ich sehe, daß Teile unserer Wähler, die nicht zu den Begüterten gehören und Sorgen haben, mit den Einfachargumenten von rechts leider auch erreichbar sind.

Glauben Sie, daß sich Ihre Partei darauf einstellen wird? Wird die SPD in Zukunft das populistisch aufgreifen, was der Mann auf der Straße will? Ist der Schwenk beim Asylrecht nicht schon ein Zeichen dafür?

Diese Aussage teile ich nicht. Was das Volk denkt, muß nicht falsch sein. Es muß auch nicht immer richtig sein. Aber gerade Menschen, die für mehr plebiszitäre Elemente eintreten, für mehr direkte Demokratie— ich gehöre in begrenztem Maße dazu, Sie und Ihre Zeitung weitaus stärker —, können doch nicht im Ernst behaupten, daß es Populismus sei, wenn man ein bißchen darauf guckt, was das Volk bewegt.

Gut, reden wir nicht vom Volk, sondern vom Terror auf der Straße.

Die auf der Straße stehen, Menschenrechte mit Füße treten und Molotowcocktails schmeißen, beeinflussen doch nicht unsere Politik. Es geht um die Mehrheit des Volkes, und die kann man nur gewinnen, wenn man ihr in einigen Fragen, die sie zentral berührt, entgegenkommt. Nur dann gewinnen die Stammtischstrategen nicht, anderenfalls hat die Straße gewonnen.

Wenn man das Ganze in politische Strategien umsetzt: Ist die Entwicklung in Europa, die Einheit, die Flüchtlinge, ein Grund für Sie, eine Große Koalition anzustreben?

Ich lehne Große Koalitionen aus innerer Überzeugung ab. Ich hab' mal gegen eine solche demonstriert, als meine eigene Partei mit von der Partie war. Ich will nicht zugucken, wie bei einer Großen Koalition die Leute scharenweise nach links und nach rechts weglaufen, weil politisch nichts mehr stattfindet. Eine Große Koalition ist eine Antwort in Titanic- Situationen, wenn ein Staat droht, im 40-Grad-Winkel wegzurutschen. Das ist bei uns nicht der Fall.

Wenn 1994 rechnerisch sowohl eine Große Koalition als auch eine Ampel möglich wäre, wären Sie also für die Ampel?

Ich bin für eine Zweierkoalition. Wenn das nicht geht, muß man sehen, ob eine Ampelkoalition möglich ist. Die Frage ist, ob sie sich vertragen, die drei. Ob die in einer Zeit, die noch sehr viel komplizierter sein wird als heute, ein Programm hinkriegen. Drei hoch unterschiedliche Partner — was ihre Tradition, ihre Strukturen und ihre Interessenbindungen angeht — in schwierigsten Zeiten beim Regieren zum Erfolg führen zu müssen ist keine Idealvorstellung.

Das stimmt.

Aber sie hat einen theoretischen Charme. Entschieden wird das Ganze sowieso erst 1994. Wir könnten in Situationen hineinrutschen, die sehr schwierig sind. Das gegenwärtige Wachstum ist weit geringer, als Herr Möllemann sagt, die Transferanforderungen in den Osten steigen, die eigenen Notwendigkeiten steigen, schon durch den Zustrom von Menschen, der nicht morgen aufhören wird.

Seit Petersberg redet die Presse von Ihrem „Coming-out“...

...was für ein reizender Begriff.

Glauben Sie, daß die SPD dem „neuen Engholm“ auf dem Sonderparteitag folgen wird?

Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß wir ein Stück vorankommen müssen. Ob man mich und meine Position auf dem Parteitag akzeptiert oder nicht — die Sache muß entschieden werden. Wir könnten sonst das ganze Wahljahr nur mit der Asylfrage bestreiten und alles andere, was wichtig ist, vergessen.

Sie sagen, daß Sie die Positionen in der Asyl- und Blauhelmfrage festklopfen wollen, um die Hände für die Probleme in Ostdeutschland freizubekommen. Aber es passiert das Gegenteil: Ihre Partei zwingt Sie zum Sonderparteitag, und die CDU, der Sie schon eine Hand gegeben haben, will noch die andere und die Füße dazu.

Im schleswig-holsteinischen Landtag haben wir eine Einigung mit der CDU erreicht. Darin heißt es, daß wir eine Zuwanderungsgesetzgebung brauchen, daß wir Einbürgerung erleichtern und uns über Doppelstaatsbürgerschaft den Kopf zerbrechen wollen. In diesen Punkten hat sich die CDU bewegt. Das ist schon eine ganze Menge. Wenn man in dieser Form aufeinander zu geht, könnte man ein Stück nach vorne kommen — ohne die Verfassung oder die Menschenrechte zu verletzen. Anders geht es nicht.

Aber die CDU tut's doch nicht.

Das Problem wird nicht lösbar sein, wenn wir nicht innerhalb der SPD einen Konsens finden, und erst recht nicht, wenn die CDU nicht bereit ist, ein Stück mehr Erkenntnis zu zeigen. Der Artikel 16 löst ja nicht die Zuwanderungsproblematik.

Also ohne Paketlösung keine Änderung?

Richtig. Es muß eine Paketlösung sein, weil sonst am Problem nichts bewegt wird.

Seit Petersberg versuchen wir herauszufinden, was Sie mit Ihrem Blaubhelmbeschluß gemeint haben. Vor UNO-Reform, mit UNO- Reform...?

In UNO-Reform...

Und ab wann gilt dann was?

Die Grundfrage heißt: Sind die Deutschen künftig bereit, nicht als Großmachtstreiter, sondern im Rahmen einer multinationalen UNO-Struktur eine Pflicht wahrzunehmen, die sie nicht mögen? Und ich bin dafür, daß wir es im Extremfall tun. Wenn der Generalsekretär kommt — und das wird, glaube ich, nicht mehr so lange dauern — und sagt, daß er aus 41 Staaten der Welt nicht für einen konkreten, sondern für einen möglichen Zweck „rekrutiert“, sollten wir nicht beiseite stehen.

Das Gespräch führten Jürgen Gottschlich und Bascha Mika

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