INTERVIEW
: „Wissentlich produziertes Chaos“

■ Iris Blaul (Die Grünen), hessische Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, ist zuständig für die Unterbringung von Asylbewerbern

taz: Vor knapp einem halben Jahr sagte der hessische Ministerpräsident Hans Eichel in einem Interview mit dieser Zeitung, daß es — im Vergleich mit anderen Bundesländern— das Spezifikum der rot-grünen Flüchtlingspolitik sei, daß in Hessen keine Sammellager für mehr als 500 AsylbewerberInnen eingerichtet würden. Heute leben in der Erstaufnahmekaserne in Gelnhausen rund 1.000 Flüchtlinge. Was unterscheidet denn jetzt noch die Flüchtlingspolitik der rot-grünen Landesregierung etwa von der einer rot- schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg?

Iris Blaul: Natürlich ziehen die rot- grünen Landesregierungen in Hessen und Niedersachsen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in besonderem Maße auf sich...

Was machen Sie in Wiesbaden anders als die anderen?

Wir hatten etwa im Bundesrat dem sogenannten Beschleunigungsgesetz nicht zugestimmt, weil uns klar war, daß das gemeinsame Ziel der beschleunigten Abwicklung der Asylverfahren mit diesem Gesetz nicht zu erreichen war und ist. Wir haben zusammen mit Niedersachsen für ein rechtsstaatliches und effektiveres Verfahren plädiert.

Und wie sollte das aussehen?

Wir haben uns dafür eingesetzt, daß der individuelle Anspruch auf Asyl garantiert bleibt, daß ein Einwanderungsgesetz konzipiert wird und daß die Kriegsflüchtlinge einen Sonderstatus nach der Genfer Konvention bekommen. Das alles hat die Bundesregierung bisher abgeblockt. Und sie hat den Menschen in diesem Lande suggeriert, daß sich mit der Verabschiedung dieses untauglichen Beschleunigungsgesetzes die Verhältnisse rasch bessern würden. Heute müssen wir feststellen, daß die Bundesregierung mit ihrer Blockadehaltung bei der Bearbeitung der Asylanträge in Zirndorf einen auch nur relativen Erfolg dieses Beschleunigungsgesetzes selbst verhindert hat. Es war die politische Strategie dieser Bundesregierung, sich via Beschleunigungsgesetz in Kombination mit der Bearbeitungsblockade in Zirndorf an eine Aushöhlung des Artikel 16 Grundgesetz heranzurobben. Die Proteste auch sozialdemokratischer Ministerpräsidenten, Landräte und Bürgermeister gegen das wissentlich produzierte organisierte Chaos sollten die SPD weichkochen und reif für eine Änderung des 16ers machen. Dieses Strategie ist — was die SPD anbelangt — zum Teil aufgegangen. Doch selbst überzeugten Christdemokraten dürfte inzwischen klar geworden sein, wie hoch der Preis ist, den wir alle — und vor allem die Flüchtlinge — dafür werden zahlen müssen. In Bonn wurde ein Zug auf die Schienen gesetzt, der inzwischen vom Stellwerk aus nicht mehr gesteuert werden kann. Diese Republik ist dabei, ihr Gesicht zu verändern. Bei der Debatte um die Änderung des Artikel 16 geht es längst nicht mehr nur um diesen Grundgesetzartikel. Da wurde ein Glaubenskrieg entfesselt— und der tobt noch immer, obgleich flächendeckend die Heime für Flüchtlinge brennen.

Fest steht, daß an sozialen Brennpunkten vor allem in Ostdeutschland ein friedliches Zusammenleben zwischen Einheimischen und Fremden — aufgrund der aufgeheizten Stimmungslage — kaum noch möglich zu sein scheint.

Deshalb muß es eine Regelung für die Einwanderung geben, analog den gesetzlichen Regelungen in anderen Einwanderungsländern. Die Menschen, die zu uns kommen, weil sie eine ökonomische Überlebensperspektive für sich und ihre Familien suchen, dürfen nicht länger in das stagnierende Asylverfahren gedrängt werden. Was zur Zeit hier noch passiert, ist doch ein schlichter Wahnsinn. Wirtschaftsflüchtlinge, politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge werden unter dem Begriff Asylanten subsumiert. Und das Asylverfahren ist wegen der 400.000 auf Halde liegenden Altanträge praktisch außer Kraft gesetzt worden.

Kann das von Grünen und Sozialdemokraten beschworene Einwanderungsgesetz denn tatsächlich verhindern, daß immer mehr Menschen in die Bundesrepublik kommen? Glauben Sie denn tatsächlich, daß sich etwa ein Familienvater aus Albanien, der seine Kinder nicht mehr ernähren kann und deshalb nach Deutschland auswandern will, mit einem Bescheid der Botschaft in Tirana zufriedengeben wird, daß er vielleicht in fünf Jahren auf der ellenlangen Warteliste der Botschaft nach oben gerutscht sein könnte?

Daß es auch nach der Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes Probleme geben wird, steht außer Zweifel. Doch dem von der Bundesregierung zu verantwortenden aktuellen Chaos kann nur mit einem Regelungspaket aus Asylgesetz, Einwanderungsgesetz und B-Flüchtlingsstatus begegnet werden. Nur so kann das Asylverfahren entscheidend entlastet werden. Rund 35 Prozent der Asylsuchenden, die in die Bundesrepublik kommen, sind Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Und Menschen, die nach einer Einwanderungsquote in die Bundesrepublik kommen, brauchen nicht in Sammelunterkünften auf Kosten der Länder untergebracht zu werden. Diese Menschen werden hier arbeiten. Und die deutsche Wirtschaft hat wiederholt erklärt, daß sie auf den weiteren Zuzug von Ausländern angewiesen sei. Das alles zusammengenommen, kann dazu beitragen, daß die Spannungen abgebaut werden. Es gibt dann eben keine „Asylanten“ mehr, sondern politisch verfolgte Menschen, die bei uns Schutz suchen, aktuelle Kriegsflüchtlinge — und da war die Aufnahmebereitschaft in Deutschland bisher groß — und legale Einwanderer. Und dazu gibt es keine Alternativen, wenn man nicht tatsächlich, wie von Kanther (CDU, die Red.) vorgeschlagen, die Bundeswehr an die Grenzen stellen will. Wer die Perfektion der Abschottung will, der muß diese Republik einmauern — auch in Richtung Frankreich, denn von dort kommen oft Menschen aus Nordafrika. Aber wer möchte in einem solchen Land noch leben?

Was ist denn aktuell — vor der verlangten Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes — notwendig, um die Unterbringungsprobleme zu lösen, die gerade in Hessen ihr Ministerium an den Rand der Handlungsunfähigkeit gebracht haben?

Wir brauchen jetzt sofort eine Altfallregelung. Da muß ein Stichtag für eine generelle Anerkennung festgelegt werden, denn in Zirndorf schmurgeln 44.000 Anträge hessischer AsylbewerberInnen, einige seit mehr als vier Jahren. Auf der anderen Seite gibt es etwa noch Polen, die zu Zeiten des Kriegsrechtes geflohen sind — und die noch immer keinen rechtskräftigen Asylbescheid haben. Der Asylgrund ist da längst weggefallen. Hier muß jetzt zügig abgelehnt werden. Das alles ist Beleg dafür, daß das ganze Verfahren in der Verantwortung der Bundesregierung längst zusammengebrochen ist. Wir haben aufgrund des Aktenberges in Zirndorf mehr als doppelt so viele AsylbewerberInnen in Hessen in der Erstaufnahme zu betreuen als im Rahmen der Länderquote vorgesehen. Diese Blockadehaltung der Bundesregierung verursacht allein in Hessen Kosten von mindestens 200 Millionen Mark im Jahr. Und diese Kosten für die Unterbringung und Betreuung werden wir der Bundesregierung in Rechnung stellen. Interview: K.-P. Klingelschmitt