: Oben und unten
■ betr.: Taz-Kommentar vom 22.9.92
Betr.: Taz-Kommentar vom 22. 9. 92 (Magda Schneider)
Die Wut im Bauch hat der Kommentatorin den Blick vernebelt. Selbstverständlich sind die pogromhaften Auswüchse, die uns derzeit in Atem halten, bestürzend. Doch sollte gerade die kritische Journaille der Realität angemessen zu differenzieren vermögen. Kommentarspalten sollten keine Freiräume für alternative Stammtischparolen sein.
Angesichts der Widerwärtigkeit immer brutalerer Formen des Fremdenhasses, dürfen wir uns der Fähigkeit, zu verstehen, nicht selber berauben. Damit ist nicht gemeint, daß jede ausgefeilte Ursachenanalyse zum juristischen Freispruch zwingt. Doch wir werden uns schon die Mühe machen müssen, festzustellen, von welchem Kaliber die jeweiligen Straftäter sind. Haben wir es beispielsweise mit organisierten Neo-Nazis, mit desorientierten Jugendlichen oder mit irgendwelchen Soziopathen zu tun. Mal davon abgesehen, daß kein Straftäter sich besäuft, um nach den häufig genug auch ungeplanten Attacken gegen Ausländer Strafmilde beanspruchen zu können, wird man sich immer fragen müssen, welche resozialisierende Wirkung diese oder jene Strafe haben wird. Denn wenn dieser Aspekt völlig aus unserem Blickfeld verschwindet, könnten wir auch gleich Arbeitslager einrichten, in denen wir kriminelle Rassisten dauerhaft wegschließen könnten.
Darüberhinaus gehe ich immer noch ganz grundsätzlich davon aus, daß niemand als Neo-Nazi geboren wird (übrigens auch nicht als Vergewaltiger), sondern dazu 'gemacht' wird. Und in der Tat muß sich diese Gesellschaft angesichts der Tatsache, daß viele der fremdenfeindlichen Täter vor 10 Jahren noch Kinder waren, die Frage gefallen lassen, was denn in dieser Zeitspanne bei den Betreffenden alles nicht gelaufen ist - an humanistischer Werteorientierung, an Zuneigung, Verbindlichkeit, an (politischer) Bildung, an Ernst-genommen-sein.
Insoweit kann ich die wütende Empörung darüber, daß bestimmte Gefängnisstrafen nicht hoch genug ausfallen, ganz prinzipiell nicht teilen. Auch wenn die juristische Dimension zweifellos einen wichtigen gesellschaftlichen Handlungsrahmen eröffnet, haben wir ja zurzeit gerade für die rassistischen Anstifter im Politikermilieu keine rechtlichen Mittel der Gegenwehr und Ahndung zur Verfügung. Denn häufig genug vollstrecken die da unten nur das, was die da oben verkünden. Wolfgang Harm
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