: Strahlen fordern Opfer auf der ganzen Welt
Zweite Weltkonferenz der Strahlenopfer in Berlin fordert Abschaffung aller Atomversuche und Abschaltung sämtlicher Atomkraftwerke/ Desinformation bestimmt die Politik der Atomlobby weltweit/ Vernetzung der Opfer nimmt zu ■ Aus Berlin Annette Jensen
Atomtechnik ist nicht vereinbar mit dem Leben, und deshalb gehört sie abgeschafft. Dieses Plädoyer sollen in den nächsten Tagen alle Regierungen der Welt in ihrem Postfach finden. Die Absender wissen, wovon sie sprechen: Sie haben die Wirkung dieser Technik am eigenen Leib erfahren müssen. Viele haben Krebs, leiden an Lungen- und Augenkrankheiten oder Depressionen. Kaum einer, der nicht eine Freundin oder einen Bruder verloren hat. Dreißig Millionen Opfer hat die Spaltung von Atomen bisher gefordert, schätzt Stefan Dömpkepkeke, Organisator des zweiten Weltkongresses der Strahlenopfer, der gestern zu Ende ging. Einige hundert waren eine Woche lang nach Berlin gekommen, um sich zu informieren und zu unterstützen.
„Wir geben uns keinen Illusionen hin, daß unser Appell schnelle Wirkung hat“, so Dömpke; aber in zwei bis drei Jahren werde sich schon was tun. Immerhin sei die Gefahr von Strahlen vor 15 Jahren praktisch kein Thema gewesen, erinnert sich Mitorganisatorin Janet Gordon aus Utah, die durch die Atomtests in Nevada verseucht wurde und inzwischen zur Expertin von Atomversuchen und -unfällen geworden ist: „Die Verantwortlichen sagen uns nichts freiwillig, wir müssen alles selbst rausfinden.“
Viele Betroffene wissen bis heute nichts von der Gefahr, der sie durch Uranabbau, Atomtests und Plutoniumtransporte ausgeliefert sind. Zum Beispiel die autonome chinesische Provinz Xinjiang: Auf dem Atomtestgelände Lop Nor werden nach wie vor überirdische Atombombenversuche gezündet. Das dort lebende Volk der Uiguren aber ist ahnungslos. Der Kulturwissenschaftler Jussupbek Muchlissow erfuhr Anfang der 60er Jahre durch befreundete Forscher von den Versuchen. Nachdem er deshalb ein Jahr lang im Gefängnis gesessen hatte, stellte ihn die chinesische Führung vor die Alternative Haft oder Exil. Er ging nach Kasachstan, wo er bis heute lebt. „Semipalatinsk ist jetzt geschlossen. Aber es droht weitere Gefahr von Lop Nor“, sagt der heutige Präsident des „Ostturekestan-Komitees“, das sich für die Rechte seines 25-Millionen-Volkes einsetzt. Ein US-Forscher hält viele Gebiete Kasachstans und Xinjiangs für derartig verstrahlt, daß dort eigentlich keine Menschen mehr leben dürften. „Die Sowjets haben ihre Tests in Semipalatinsk immer durchgeführt, wenn der Wind in Richtung China stand — und umgekehrt“, erklärt er in einem Workshop in Berlin. Robert Proctor von der Uni Pennsylvania nimmt an, daß die zweite Ursache nuklearer Verseuchung in der Gegend durch große Uranminen verursacht wird. Es gebe sogar Informationen, daß China dort waffenfähiges Uran herstelle, das nach Israel, Pakistan und Japan geliefert werde. Bruchstück um Bruchstück versuchen die KonferenzteilnehmerInnen, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zusammenzutragen. Aber auch um die Informationspolitik der westlichen Staaten ist es nicht viel besser bestellt. „Mururoa — das heißt für uns Geheimnis“, sagt ein Vertreter aus Tahiti, das durch die französischen Atomtests auf dem kleinen Atoll im Pazifik bedroht ist. Aber der Organisationsgrad der Opfer ist in den letzten Jahren gestiegen. Veteranen der US- Army, die von ihren Vorgesetzten für Testreihen in Atombombenkrater geschickt wurden, haben inzwischen Entschädigungen erstritten. „Und zum ersten Mal sind wir eine tatsächliche Weltkonferenz“, freut sich der japanische Mitorganisator Matsuoka. Bei der letzten Konferenz vor fünf Jahren in New York hatten vor allem die VertreterInnen aus Osteuropa noch gefehlt. Jetzt sind allein 100 Menschen aus der GUS angereist. Die aber hatten sehr unterschiedliche Ambitionen: Während die einen radikale AtomgegnerInnen sind, plädieren andere für den Aufbau von AKWs.
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