: Advantage Schinkenstrang
■ Boris Becker und Michael Stich gewinnen im Schnellverfahren das Daviscup- Abstiegsspiel gegen Belgien und spurten ins Westfalenstadion — zu Bayern gegen BVB
Essen (taz) — Keine sechs Stunden sind insgesamt gespielt. 40:15. Damit hat das deutsche Doppel Bumstich gleich zwei Antiabstiegsbälle. Der erste vergeben. Aber den zweiten setzt Boris Becker mit einen heftigen Rückhand-Volley ins Feld — das ist der Triumph. 3:0 gegen Belgien. Das deutsche Daviscup-Team ist derzeit unabsteigbar wie der VfL Bochum und bleibt damit in der Weltgruppe. Jubel! Am Freitag hatten die beiden die Einzel gegen die Belgier glatt, ohne Dramatik und ohne jedwedes Flair vergangener Daviscup-Thriller gewonnen. Der Höhepunkt an sportlicher Brisanz war Stichs kecke Erkenntnis, er habe eine „solide Leistung“ gezeigt. Advantage Langeweile, Deutschland gewinnt, und keiner guckt hin.
Was kann man nur Erregendes reportieren? Aus dem Untergrund vielleicht: Direkt unter dem Court ist der Bereich der Sponsoren. Da trifft VIP VIP — bei Hummergelagen und Champagner? Nicht doch in Essen: Es gibt Gyrosschnetzereien statt Gourmetschlemmereien. Oben brüllt einer: „Mach feddich, Borriss.“
Worüber schreibt man nur? Das Bemühen um prickelnde Stimmung auf den Rängen nahm bisweilen groteske Formen an: Die Versuche, ein rhythmisches Klatschen zustande zu bringen, klangen immer wie ein klopfender, knatternder Dieselmotor an einem Wintermorgen. Der altehrwürdigen Grugahalle fehlt es ohnehin an disziplinenspezifischem Ambiente: dreckig-beige die Stoffgardinen, die aussehen, als seien sie seit den 50er Jahren nicht mehr gewaschen worden. Immerhin konnten die Veranstalter damit die freien Plätze zuraffen, so daß die Halle gut gefüllt aussah. Eigentlich waren es noch unverhältnismäßig viele Menschen, die den einseitigen Kurzdarbietungen beiwohnten.
Beiwohnen — vielleicht ist das das Thema. Erstmals hatte der vom Spiegel in die Krise geschriebene gestrenge Teamkapitän Nikola („Niki“) Pilic zugelassen, daß die Spieler-Gefährtinnen mit ins Hotel durften. Ha, Sex, immer ein Thema. Stich dazu frisch vermählt, etwa Flitterstunden vor dem Kampf für Deutschland? Nix war's: In Essen war keine einzige Lebensabschnittspartnerin zugegen. Welche Enttäuschung — welch süffisante Fragen man da hätte stellen können. So blieb es beim Sportlichen: „Zufrieden, Boris?“ — „Ja.“
Heribert Faßbender springt in die Bresche. Das beliebte TV- Bärtchen war als einziger so begeistert, daß er euphorisch lautstark kommentierte. Das war bis auf den Platz zu hören. Boris beschwerte sich. Heribert bereute und flüsterte fortan. Skandal dahin à la: Erste Reihe torpediert ersten Aufschlag. Ja, wenn überhaupt, dann Becker. Der ham string bereite ihm Probleme, da habe er Verhärtungen, bekannte er. Nein, es gebe im Deutschen kein Wort dafür, sagte Bum und deutete auf die prall gefüllte obere Oberschenkelmuskulatur. Gesäßverspannungen also am: ja, sagen wir es auf deutsch, am Schinkenstrang.
Der Schinkenstrang hielt. Aber bei 2:0-Satzführung im Einzel gegen den pfiffig mitspielenden Junior Filip de Wulf lag Becker plötzlich 1:4 zurück. Satzverlust drohte und damit Daviscup-gemäße Pause. Das wäre das Aus gewesen — nicht für Deutschland, aber für Bumstichs Abendvorhaben: ein Trip ins Westfalenstadion zu BVB gegen die Bayern. Er möge sich beeilen, brüllte da einer aus dem Publikum, die Borussia warte. Und Becker gewann die folgenden fünf Spiele so schnell und souverän, daß er sich nachher nicht erinnern konnte, jemals zuvor am Stück so viele so unreturnierbare Schläge hintereinander gespielt zu haben.
Endlich! Alle hatten ihr Thema: Boris beeilt sich wegen Borussia. Pünktlich war er im Westfalenstadion, sah erschreckend starke 90 Minuten seiner geliebten Bayern und eine indisponierte Borussia, die „dem Irrglauben aufsaß, mit vielen offensiven Leuten automatisch offensiv gut auszusehen“ (Kurt Röttgen, Analytiker). Und im Herausgehen antwortet Becker, exklusiv nur für diese kleine, uneingehbare Zeitung: Nein, er habe auch beim 1:4 keine Sekunde an das Bundesligaspiel gedacht, und sich deshalb beeilt. „Nein, wirklich nicht“, und er lacht, wie man so was nur denken könne. Wieder nix mit tollem Thema.
Es gab nur eines: Deutschland hat gewonnen. Ist ja auch was. Dann gibt es nächstes Jahr neue Spiele um die Schüssel oder um die erneute Unabsteigbarkeit. Und damit neue Themensuche. Bernd Müllender
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