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Nebensachen: MadridDie Vorzüge qualvoller Enge

■ Vom unaufhörlichen Kauen in unmodernen Kneipen — ein Zeichen für Güte

Madrid (taz) — A donde va Vicente? A donde va toda la gente!— Wohin geht Vicente? Wo alle hingehen! Es ist ein beliebtes spanisches Spottwort für diejenigen, die gerne volle Orte aufsuchen. Die Bewohner dieses Landes geben sich gerne als Individualisten, die sich nur wenig organisieren. Tatsächlich gehört etwa der Prozentsatz an Gewerkschaftsmitgliedern unter den Arbeitnehmern zu den niedrigsten Europas, Turn-, Gesang- und Schützenvereine genießen nur sehr mäßigen Zulauf, und „Stammtisch“ ist ein Wort, das zu übersetzen langer Erklärungen bedarf. Eine Ausnahme bilden allerdings die Fußballklubs, deren Mitglieder häufig Banden bilden und randalierend durch die Stadt ziehen, wenngleich sie bislang nur selten Menschen angriffen.

Die Abneigung gegen organisierte Zusammentreffen bedeutet freilich nicht, daß gemeinhin einsame Orte aufgesucht werden. Im Gegenteil: Mehrere hundert Meter lange Schlangen bilden sich an Wochenenden vor den großen Kinos, ohne daß großes Murren hörbar würde oder eine merkliche Anzahl Wartender es vorzögen, eben an einem Wochentag ins Kino zu gehen. Vor den gerade in Mode gekommenen Kneipen stehen abends Menschentrauben, während direkt daneben eine Bar mit identischem Interieur und Getränkeangebot gähnende Leere aufweist. Am Sonntag nachmittag ziehen Familienverbände mit Vorliebe ins Kaufhaus El Corte Ingles, in dessen Innerem sie sich dann im Schneckentempo vorwärtsschieben.

Während es in diesen Orten eher anzuraten ist, zur „Unzeit“ aufzutauchen, gibt es eine Art von Etablissements, in denen eine lange Warteschlange oder heftiges Gedränge einen sicheren Gütebeweis darstellen: Es sind Imbisse oder kleine Kneipen oder Cafés. Um den Platz Puerta del Sol im Zentrum Madrids etwa reihen sich mehrere Konditoreien. Ein Blick auf ihren Eingang zeigt untrüglich, welche allen anderen den Rang abläuft: Ein unaufhörlicher Fluß Passanten gibt sich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht in der Pasteleria La Mallorquina die Klinke in die Hand. Innen qualvolle Enge, gehetzte Verkäufer, der Fußboden übersät mit Papierservietten. Hier werden die besten Croissants der Stadt verkauft, noch warm vom Blech. Ähnlich ist es mit dem verschachtelten Imbiß in einer Nebengasse, unweit von der Mallorquina. Bis auf die Straße stehen hier die Hungrigen Schlange für ein paar Stücke fritierten Stockfisches, im Stehen in Gesellschaft eines Biers zu verzehren. Oder Las Bravas, eine Stehkneipe in der Altstadt, wo im Kampf mit dem nachbarlichen Ellbogen gekochte Kartoffeln mit einer patentierten scharfen Soße geschluckt werden. Oder die Chocolateria San Gines, wo nachts um drei Schlange gestanden werden muß, um nach durchzechten Stunden durch eine Tasse heißer Schokolade und Fettkringel wieder nüchtern zu werden.

Meist sind es winzige Orte, die, soweit noch nicht modernisiert, durch nichts auf sich aufmerksam machen. Gewöhnlich sind sie ein bißchen schmuddelig und schlecht erleuchtet, nach alter Sitte ist das Speisenangebot auf die Vitrinen gepinselt. Kein Stern, keine Abbildung einer Visa-Karte — nichts weist darauf hin, daß es hier etwas Besonderes gibt. Nur eben: die sich darin erdrückenden, unaufhörlich kauenden und dabei aufeinander einschreienden Menschen. Sie sind das Gütezeichen, von dem man sich leiten lassen darf. Nur: Die Esser dürfen keine Teenager sein. Die futtern am liebsten Hamburger und Pizza. Antje Bauer

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