Marusa Krese: Ein ganz gewöhnlicher Tag

■ Und eine Verabredung zum Kaffee

Ein heißer Augusttag in Ljubljana, der Hauptstadt einer der neuen kleinen „unabhängigen“ Republiken irgendwo auf dem Balkan, in Mitteleuropa oder ganz einfach in Europa, ohne nähere Bestimmung. Ganz nach Belieben. Ein heißer Tag in der Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich in der Schule meine Traumen erlitt und meine Lieben erlebte; in der Stadt, in der ich tausend Freunde hatte; in der Stadt, die mir heute verdammt fremd ist. Autos der Marken BMW, Mercedes, Subaru rasen an mir vorüber, vielleicht noch manchmal ein Passat; kleinere Gefährte bekommt man kaum noch zu sehen. Das ist wohl meine „Sixties“-Generation. In der Zeitung lese ich im Artikel eines Freundes, man müsse an der Kolpa, dem Grenzfluß zwischen Slowenien und Kroatien, so etwas wie die Berliner Mauer errichten. Auch er gehört meiner Generation an.

Ich bin mit einer Freundin aus Belgrad zum Kaffee verabredet. Sie ist Schriftstellerin und gehört zu den wenigen, die sich schon von allem Anfang an vom serbischen Nationalismus distanziert haben. Sie ist immer noch ein bißchen depressiv wegen ihrer Erlebnisse an der slowenischen Grenze, wo sie nur unter Schwierigkeiten ein Einreisevisum bekommen konnte. Beide sehen wir nervös auf die Uhr. Meine geht vor. Heute soll nämlich über Split unsere Freundin Duska aus Sarajevo in Ljubljana ankommen. Gott sei Dank, sie ist noch am Leben. Wir sehen einander an und lassen die Schultern hängen. Uns trifft keine Schuld.

Wir sehen einander an, lachen. Duska zittert.

„Du bist ja gar nicht dünner geworden“, sage ich. Und denke, mir könnte auch etwas Klügeres einfallen.

„Doch, ich habe 16 Pfund abgenommen.“

„Und braun bist du geworden“, sage ich.

„In Split scheint die Sonne.“

Wir sitzen im Gastgarten eines bekannten Laibacher Lokals. Duska ißt und ißt in einem fort. Aus Solidarität essen wir alle mit. Ich sehe sie an und habe Angst, daß sie es bemerkt. Duska erzählt... Ich wage nichts zu fragen, solange sie von allein spricht... „Wir haben uns mit Schweineschmalz eingecremt, das hilft angeblich gegen Tuberkulose. Die Alten wissen das noch aus dem Zweiten Weltkrieg.“ Ich sehe sie an, ihre Augen, ihren Körper. Mir fällt mein Sohn David ein, nach vier Operationen im Mai blieb er nur mit Not am Leben, mir fallen die Bilder aus den KZs ein, mit denen man uns als kleine Kinder fütterte, und die Berichte der Juden. Duska raucht und erzählt. Ihr gelang die Flucht mit Hilfe der HVO; aus Sarajevo über Stup, durch das serbisch besetzte Gebiet, das von Kroaten kontrollierte Gebiet Kiseljak, und wieder Serben, und wieder Kroaten, und so fort; bis in den Westen der Herzegowina, die in den Händen der Kroaten ist, und über Split und Rijeka nach Ljubljana. Das Lager an der bosnisch-kroatischen Grenze und der Garantiebrief für die Durchreisegenehmigung durch die kroatische Republik. Duska hat in Sarajevo alles unterschrieben, egal, wer es ihr vorgelegt hat: Serben, Kroaten oder Moslems. Ihnen allen hat sie ihre Wohnung vermacht, falls sie nicht den Verwüstungen zum Opfer fällt. Die sollen das unter sich ausmachen.

„Sarajevo ist eine Mausefalle“, sagt Duska. „Für euch mag es von außen vielleicht den Anschein geben, als würde sich die Stadt wehren, als gebe es noch etwas, woran man sich halten könnte. In Sarajevo sind die Seelen der Menschen Wüsten; dort findet ein Völkermord statt. Egal ob Moslems, Kroaten oder Serben; wer fragt denn überhaupt danach, wer wohin gehört? Wer von uns wußte denn überhaupt von der Abstammung des anderen?“ Die Solidarität unter den Nachbarn gibt es noch, die kann uns niemand nehmen.

Nicht die Bomben haben Duska in die Flucht geschlagen, sondern die Gefolgschaft des Serben Arkan und die muslimischen Yukaen. Diese Banden durchwühlten täglich ihre Wohnung. Duska ließ in Sarajevo ihre Schwester mit zwei kleinen Kindern zurück, sie ist mit einem Moslem verheiratet; und ihre Mutter; ihre Freunde; den Nachbarssohn, mit dem sie während der Bombenangriffe Vivaldi hörte.

Als sie Sarajevo verließ, warf sie einen letzten Blick zurück auf die Stadt und sagte: „Sarajevo, ich scheiße auf dich; Sarajevo, ich hasse dich!“ Ein moslemischer Schulfreund aus der Grundschule begleitete sie ein Stück und sagte zum Abschied: „Vergiß nicht, daß du das größte KZ verläßt, das es je gegeben hat.“

Wir sitzen immer noch im Gastgarten und hören ihr zu, doch jeder ist mit seinen Gedanken woanders. Duska sitzt hier im freien Ljubljana. „Hätte ich gewußt, wie demütigend der Weg von Sarajevo nach Ljubljana sein würde, ich wäre nicht aufgebrochen“, sagt sie. Auch hier will sie nicht bleiben. Sie will fort, weit fort von allen Erinnerungen, zumindest für einige Zeit.

Am Abend sind wir mit einer Belgrader Schauspielerin und einem Regisseur aus Sarajevo verabredet; er ist eben aus Amsterdam eingetroffen und will um jeden Preis nach Hause. Wir fahren auf einen der Ljubljana umgebenden Hügel, von dem aus seit einiger Zeit Amateurfunker versuchen, mit Bosnien in Verbindung zu treten. Was für eine romantische Szenerie: der Wald, die Lichtung; zwei Hiesige, die zu Polkaklängen aus dem Autoradio ihren Wagen waschen; zwei junge Frauen, die in blütenweißen Anzügen Übungen machen, die wie Aerobic aussehen; wir, nervös rauchend unter dem Baum, an dem ein Schild befestigt ist, auf dem steht: „Rauchen verboten! Waldbrandgefahr!“, eine Romafamilie und einige Arbeiter aus Bosnien, deren Familien zu Hause warten.

Die Polizei fährt vorbei und erklärt freundlich, die Amateurfunker hätten einen anderen Ort gefunden, doch sie wußte nicht genau wo, im Sendehaus könne man es wohl am ehesten erfragen...

Wir besuchen eine amerikanische Journalistin, die in Sarajevo verwundet wurde. Sie empfiehlt uns weiter, doch auch ihre Verbindungen funktionieren nicht.

Die Belgrader Schauspielerin ist nach Ljubljana gekommen, um ihren Mann zu treffen, falls ihm die Flucht aus Sarajevo gelingt. Er arbeitet Tag und Nacht im Sender B92, jetzt hält er es in Sarajevo nicht mehr aus. Während wir der Fährte der Amateurfunker durch Ljubljana folgen, teilt ein Journalist aus Paris telefonisch mit, er habe via Satellit von ihrem Mann die Nachricht erhalten, daß sie nicht weiter zu warten brauche, ihm sei die Flucht aus der Stadt bisher noch nicht geglückt. Zumindest ein Trost, Europa funktioniert noch.

Es ist Abend und heiß, ich habe Kopfschmerzen. Bilder, Bilder, Bilder. Eine Situation absurder als die andere. Ich bringe meine alte Tante ans Meer nach Kroatien. An der Grenze packt mich die Wut. Man fragt, wohin ich wolle, hält meinen noch jugoslawischen roten Paß in Händen, als flösse aus ihm Blut, und ich antworte: „Nach Hause!“ Meine Tante sieht mich verwundert an: „Was ist denn in dich gefahren? Sei doch froh, daß man dich einreisen läßt.“ „Zum Teufel, schon seit 40 Jahren steht eines meiner Betten dort auf der anderen Seite.“

Ich stelle den Fernseher an. Im Zagreb-Programm läuft ein Bericht über die letzten Höhepunkte des Wahlkampfs. Romantisch, diese wackere kroatische Demokratie. Bombenangriffe, Flugzeuge; Inseln und das Meer; lachende Kinder, Tudjman und Kerzen. Ich gehe spazieren an den Strand. Auch das Meer ist nicht mehr, was es war. Wie heißt es doch gleich: Da war doch ein Meer, da ist keines mehr.

Müde kehre ich nach Berlin zurück. Müde von all diesen Geschichten, all diesen Geschicken, all diesen Grenzen, all dieser Menschenverachtung. In Berlin erwartet mich eine seltsame Aufgabe — ich weiß gar nicht mehr, wer sie mir aufgebürdet hat, jemand anderer oder ich selbst —, seit dort unten im Süden die Telefonverbindungen unterbrochen sind: Gespräche mitten in der Nacht, zwischen Ljubljana und Belgrad, Rijeka und Podgorica; über Telefax verschicke ich die für ein slowenisches Visum nötigen Garantiebriefe nach Novi Pazar und Pancevo...

Und slowenische Studenten, die ihre Kollegen in Belgrad unterstützen wollen...

Und die Bewegung für eine gleichzeitige Staatsbürgerschaft in allen ehemaligen jugoslawischen Republiken...

Und die Familie eines Freundes aus Skopje, der erkrankt ist und nicht zurückkehren kann. Ich bin todmüde, seit jenem heißen Augusttag ist etwas in mir gestorben.

Die Wut, die mich in den letzten Jahren aufrecht hielt, ist gestorben, als sich mein Land plötzlich entschied, auf jenen Zug aufzuspringen, der gerade in der ganzen Welt in Mode ist; als man sich entschied, eiligst in Richtung „Freiheit, Demokratie und Europa“ aufzubrechen; als man plötzlich begann, andere aus dem Zug zu werfen, um selbst drin zu bleiben; als man allenthalben brüllte: „Wir sind gut, die andern schlecht.“ Ich habe die Kämpfe satt, uns, die wir mahnten: „Gemach, gemach, es gibt keine schwarz-weißen Bilder“, stempelte man als Verräter ab, als Rote und als was weiß ich noch was. Man hatte uns ausgelacht, als wir warnten, das Blut werde in Strömen fließen, egal ob in Ljubljana, Zagreb oder Belgrad. Sarajevo war ein Sonderfall, und der Rest war ohnehin schon längst die Dritte Welt.

Mich hat das letzte Jahr geschafft, das Hin und Her mit der Anerkennung der neuen kleinen Staaten, in denen die Hälfte der Bevölkerung ein Posten in einem neuen Ministerium oder im diplomatischen Dienst erwartet. Und all die Podiumsdiskussionen haben mich geschafft, wo sich jeder Historiker und Publizist profilieren konnte, egal, ob er eine Ahnung von Jugoslawien hat oder nicht. Ich habe die Geschichten von der tausendjährigen Unterdrückung und vom Morden im Namen der Demokratie satt, all diese Pazifisten und europäischen Linken, die in einem fort zu beweisen versuchen, daß man gar nicht wisse, was „Freiheit, Demokratie und freier Markt“ wirklich bedeuten. Ich habe alle Journalisten satt, die den Balkan bereisen, die Bomben zählen und von einer Karriere à la Hemmingway träumen. Die wenigsten interessieren sich für die Sache, kaum einer setzt sich mit ihr wirklich auseinander. All die Politiker in Europa und der ganzen Welt haben mich geschafft, die auf die Krise in Jugoslawien so reagieren, wie es ihrem Land gerade in den Kram paßt. Ihre falschen Antworten, wenn es klüger wäre, zu schweigen, habe ich einfach satt.

Mich haben die Bilder des Mordens und Schlachtens geschafft, die den Regen abgelöst haben und das Geflüster, man solle froh sein, sein nacktes Leben zu retten. Ich habe die Dichter, die an neuen Verfassungen schreiben, die Intellektuellen, die nur vor den Schwellen ihrer Nachbarn kehren, und den Pazifistentourismus satt. Die unzähligen beliebigen Kommentare und die ewigen Erwartungen, die man in Europa setzt, haben mich geschafft.

Ich frage mich, welchen Beitrag die Intellektuellen in Europa leisten können, um uns dort auf dem Balkan, in Mittel- oder einfach nur Europa endlich zur Vernunft zu bringen. (Auch das bleibt beliebig.) Balsam für meine Seele sind die Äußerungen von György Konrad und manchmal Handke; für andere sind es Finkelkraut oder Levy; das ist auch egal. Jeder nach seiner Facon, wir sind die Generation, die mit der Selbstverwaltung groß wurde, wo jeder ohnehin tun könnte, was er wollte. Leider schlug keiner von uns daraus ein konstruktives Kapital.

Aus dem Slowenischen: Fabjan Hofner