■ Sex im Reich der Mitte
: Bösartige Erfindung des Westens

Shanghai (taz) — Liu Dalin rumort in seinem Schrank herum und taucht mit breitem Lächeln wieder auf, in der Hand ein kleines und grob gearbeitetes Keramikboot, komplett mit Deckaufbauten. Er klappt das Boot auf: Zum Vorschein kommen zwei winzige Figuren, ein Mann und eine Frau, deren nackte Körper ineinander verschlungen sind. Dies ist nur ein Stückchen aus Lius Sammlung antiker chinesischer Erotika.

Liu ist Chinas bekanntester Sexualwissenschaftler, dessen Werk „Sexualverhalten im modernen China“ in diesen Tagen in die Buchläden kommt. Es ist der erste umfassende Überblick über die sexuellen Aktivitäten der Chinesen. Auf seinen über 900 Seiten wimmelt es von faszinierenden Statistiken wie jene, die darüber informiert, daß nur rund 13 Prozent der Leute sich regelmäßig nackt lieben. Er hat eine ungewöhnliche Karriere gewählt — in einem Land, in dem noch Anfang der achtziger Jahre erwartet wurde, daß man sich hinlegte und ganz fest an Marx dachte. Selbst heute noch betrachten viele kommunistische Funktionäre Sex als eine bösartige Erfindung des Westens — und ignorieren die jahrhundertelang gepflegten vielfältigen sexuellen Aktivitäten im eigenen Land. 1985 hatte der gelernte Soziologe Liu in Shanghai die erste Vortragsserie über Sexualität mitorganisiert. Er war entsetzt, als er daraufhin 500 Briefe erhielt, voller schrecklicher Geschichten der Ignoranz und Frustration. Da beschloß er, ein eigenes Forschungszentrum ins Leben zu rufen — gegen den Rat von ungefähr jedem, der davon hörte.

Selbst heute noch ist Liu eine umstrittene Person, und die Leute prophezeien ihm, daß er einst ein schlechtes Ende nehmen werde.

Unter einer Handvoll chinesischer Experten ist eine heftige Debatte über Sexualität im Gange, was man allerdings nie vermuten würde, wenn man sich die chinesischen Zeitungen anschaut. Die Parteifunktionäre behaupten, daß es der einfachen Bevölkerung — wegen ihres „niedrigen kulturellen Niveaus“ — nicht zuzumuten sei, eigene Entscheidungen über sexuelle Dinge zu fällen.

Liu zeigt auf seine Darstellungen, die in den vorkommunistischen Zeiten als Aufklärungshilfe für frisch verheiratete Bräute dienten: „Ich kann diese Sachen kaufen, das gehört zu meiner Arbeit, und die Polizei nimmt mich nicht fest. Aber es wäre für einen normalen Ladenbesitzer unmöglich, sie im Schaufenster auszustellen.“ Nachdem die Polizei während der jüngsten Anti-Pornographie- Kampagne Razzien in einer Reihe von Wohnungen durchführte, waren sie immerhin aufgeklärt genug, sich bei Liu Rat über die von ihnen konfiszierten Gegenstände zu holen. Er sagte ihnen, daß sie ruhig alle Videokassetten und Bücher verbrennen könnten — die Polizei entschloß sich am Ende zu einer öffentlichen Einstampfungsaktion. Aber er bat sie, die alten Riechfläschchen, Holzschnitzereien und Keramikobjekte, die mit erotischen Darstellungen verziert waren, nicht zu zerstören.

Das akzeptierte die Polizei, stand aber hilflos vor der Frage, was sie denn damit tun sollte. Liu sagte, er brauche sie für seine Sammlung, aber die Polizei meinte, sie könne sie ihm nicht ohne Einwilligung des Bürgermeisters aushändigen — und den mochten sie nicht fragen. Schließlich boten die Polizisten die Gegenstände dem städtischen Museum an, das sie aber nicht mal mit der Kneifzange anfassen wollte. So liegt die Kollektion konfiszierter erotischer Kunst, als Pornographie verdammt, bis heute verhüllt im Hauptquartier der Polizei von Shanghai. Catherine Sampson