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Die Farbe Grün im Efeuturm

Zwei neue Briefausgaben zum 100. Geburtstag von Marina Zwetajewa  ■ Von Anke Westphal

I.

„Als ich die kleine Wohnung betrat, erstarrte ich. Eine größere Unordnung war kaum vorstellbar (...). Alles war vermengt, verstaubt, mit Tabakasche bedeckt. Ein kleines hageres blasses Mädchen kam auf mich zu, schmiegte sich vertrauensvoll an mich und flüsterte: ,Welch bleiche Kleider! Welch seltsame Stille! Und die Umarmungen sind voller Lilien, und du blickst gedankenlos drein!‘ Mir wurde eiskalt vor Entsetzen. Marinas Tochter Alja war damals vielleicht fünf Jahre alt — und sie rezitierte bereits Verse von Block! Alles war unnatürlich und gleichsam ausgeklügelt.“

Wenige Monate vor der Oktoberrevolution, im Moskau von 1917, trifft Ilja Ehrenburg die damals 25jährige Zwetajewa in einem Zustand an, der das Chaos ihrer ruhelosen 49 Jahre vorwegnimmt. Eine 17 Exiljahre währende Odyssee steht bevor, die in tödlicher Isolation endet. Auf ein solches Leben war die Zwetajewa nicht vorbereitet.

1892 wird sie in die Geisteswelt der russischen Intelligenzija hineingeboren, erzogen von Gouvernanten, umgeben von Kunst. Der Vater begründet das legendäre Rumjanzew-Museum. Die Mutter hat sich einen Sohn gewünscht und ist zutiefst enttäuscht über die Geburt Marinas. Verbittert durch die eigene unverwirklichte Berufung, will sie aus der Ältesten wenigstens eine Pianistin machen. Die Zwetajew-Kinder werden in diktatorischen Kunst- und Kult-Ritualen erzogen. Zeitungen als Symbol unreiner Tagespolitik gehörten keinesfalls auf das Klavier. Mit fünf Jahren faßt Marina eine Oktave; mit sechs Jahren schreibt sie ihre ersten Gedichte. Genährt „aus der geöffneten Ader der Lyrik“, beschließt die Zwetajewa, Dichterin zu werden, um sich vom Vermächtnis der Mutter zu befreien. Die Poesie wird ihr zum „Aufgetragenen“, „Heiligen Handwerk“, und die Seele der Töne übersetzt sie, der sich das Ticken des Metronoms in den Metallzeigefinger des Todes verwandelt, in eine hochgestimmte Sprache, die sich eher am Klang von Stimmen und Worten aufrichtet als an Gedanken und intendierten Bedeutungen. Zwetajewas Schreiben steigt hinab in unverfängliche Worte und lauscht dem Wispern der vielen möglichen Sinn-Bilder, in die sie ihr zerfallen. Ihre Sprache ist „von Musik überschwemmt“, lautmalerisch, feinnervig. Der dunkle Glanz des Klaviers verliert sich so in „schwarzen Seen“, die sich im Parkett des Salons spiegelnden Palmen gleiten in „grüne Wassergründe“. In einem luziden Aufscheinen transformiert sich Banales zu erhabenen Zwischenwelten von „hoher Wehmut“.

Zwischen diesen Polen balanciert die Zwetajewa selbst ihr Leben lang. Jeder Beruf außerhalb des Schreibens ist ihr „entsetzlich“. 1912 jedoch heiratet die Rebellin gegen die neue Zeit den kränkelnden Sergej Efron, wird Mutter zweier Kinder und lebt mit ihnen in beengten Verhältnissen. Sie benutzt keine Aufzüge, haßt Autos, kommt ohne Tabak und Wahrsagerin nicht aus. Noch nach der Oktoberrevolution rechnet sie nach dem alten (zaristischen) Julianischen Kalender und schreibt ihre Texte, dem Neuen provokant das Traditionelle, für sie Besondere entgegenhaltend, in der alten, „konterrevolutionären“ Orthografie. Die Revolution als Rebellion nimmt sie an. Der Kommunismus aber ist ihr so suspekt, wie einer geistigen Anachronistin „das Jahrhundert der organisierten Massen“ nur sein kann.

Ehrenburg deklarierte Zwetajewas Leben als „fragil und illusorisch“. Fragil war es in der unzeitgemäßen Singularität, mit der Zwetajewa die Poesie zelebrierte. Es war jedoch nichts weniger als illusorisch in seiner alltäglichen Härte. Im Winter 1919 verhungert ihre jüngste Tochter Irina, und von Efron, der als Offizier der Weißrussischen Armee ein „Feind der Revolution“ ist, hört sie über Jahre nichts. Als sie 1921 von Ehrenburg erfährt, daß Efron im Prager Exil lebt, folgt sie ihm. Zwetajewa hat zeitlebens auf dem Recht bestanden, „nicht ihr eigener Zeitgenosse“ zu sein. Zur Bedingung ihres geistigen Überlebens in der Verlassenheit des Exils gehören Freunde, die nicht wirklich anwesend waren — Briefpartner. Im Idealfall avancieren die Adressaten ihrer Briefe zu Helden von „Brief-Romanen“, mit denen die Leerstellen imaginierter Gemeinsamkeit besetzt werden.

II.

„Rainer Maria Rilke! Darf ich Sie so anrufen! Sie, die verkörperte Dichtung müssen doch wissen, daß Ihr Name allein ein Gedicht ist...“ So beginnt der erste Brief „Psyches“ an „Orpheus“ vom Mai 1926. Schon wenige Zeilen darauf wechselt sie zum „Du“ und offenbart, „warum ich zu Dir Du sage und Dich liebe und- und- und- Weil Du eine Kraft bist.“

Das ist nicht nur gegen Rilke der Ton: die Anrufung, das feierliche Hochgestimmtsein im Dialog, die Emphase, die sich von Gegenüber zu Gegenüber wiederholende Selbstmythisierung des dichtenden Ichs und seine Spiegelung im ebenbürtigen Gefährten. Jeder neugefundenen Brief-Romanliebe schildert sich die Zwetajewa selbst — manchmal nicht ganz wahrheitsgemäß —, ihre Statur, ihren Haarschnitt. Klein und knabenhaft war sie; als grünäugig und goldhaarig wie die dem Meer entstiegene Aphrodite entwirft sie sich einmal.

Rilke jedoch bleibt nicht nur Projektionsfläche von Marinas eigenen Berufungsphantasien, in ihm verbinden sich das von ihr romantisch verklärte Deutschland Kants, Goethes, Heines und Hölderlins mit der Sehnsucht nach den „Hainen“ ihrer Freiburger und Lausanner Jahre. Rilke wollte sie Psyche und die „vor-erste Frau“ Lilith sein, nicht die müde, früh ergraute Hausfrau, die in den Briefen an andere Empfängerinnen klagt. „Im Rainerland allein Rußland zu vertreten“ beansprucht sie. „Was ich von Dir will Rainer? Nichts. Alles.“

Die ersehnte Verschmelzung ist eine der Seelen, nicht der Körper — und dennoch unzweideutig erotisch konnotiert. Zwetajewa will sich und Rilke ein „Schlafnest“ bauen, trägt sich unbefangen an — die Offenbarungen werden sakrifiziert: „Ich habe den Körper immer in die Seele übersetzt (entkörperlicht)“, und alle Übersetzungen Zwetajewas sind von akribischer Genauigkeit. „Ich wiege — fast nichts.“ Nie trägt sie eine Brille, obwohl sie kurzsichtig ist; ihr Gefühl „ist sehend“. Rilke hingegen fühlt sich, todkrank, schwermütig und leidend an seiner Einsamkeit, „vom hohen Phlox ihres Wortsommers überweht und überwuchert“, wo er auf „Hülfe“, einen „Beistand nach Maaß“ hoffte. Doch Zwetajewa weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen, was ihre poetischen Überformungen des Tatsächlichen stören könnte. Nicht nur Rilke verstummt, überanstrengt vom permanent Weihevollen. Marinas letzte zwei Briefe beantwortet er nicht. Sein Tod trifft sie unerwartet, da „der Tod des Dichters überhaupt widergesetzlich ist“.

In Zwetajewas Versuchen, das Dasein als hohen Gesang zu zelebrieren, wiederholt sich dasselbe Muster: anfangs der selige Rausch des vermeintlichen Erkennens, dann unausweichlich die Bitternis der Enttäuschung über die ganz andere Person — bis ein neues Gegenüber in ihren miesen Alltag tritt. Der „Orkan der Leidenschaft“ ist die Seinsform, nicht sein Auslöser — so will man glauben —, und Begeisterung wie Verzweiflung können diesen Orkan gleichermaßen ausfüllen. Dabei ist ihre zweitliebste Form des Umgangs der Briefwechsel, ihre liebste: der Traum.

III.

„Ich bin unerhört allein und deshalb — zu allem berechtigt. Selbst zum Verbrechen ... Ich bin von Geburt aus dem Kreis der Menschen ausgestoßen. Hinter mir steht keine lebendige Mauer, sondern ein Fels: das Schicksal.“ (1920)

Im November 1925 zieht die Zwetajewa von Prag nach Paris. Nach der Geburt des Sohnes Murr zu viert, bewohnt die Familie ein unbeheizbares Zimmer; monatelang ißt man Pferdefleisch. Zwetajewas Briefe haben nie verhalten gebeten; jetzt werden sie nicht nur von der großen Armut wegen fordernd — als hätte die Dichterin naturgegeben ein Recht auf die Unterstützung der Mitwelt. Sie bittet um Bücher, alte Kleider und Schuhe, dicke Strümpfe, selbst um Briefmarken, um überhaupt antworten zu können, natürlich um Geld. Die Freunde mögen ihr doch eine Summe „in der Art eines Stipendiums“ aussetzen, und tatsächlich überweist Fürst Mirskij aus London bis 1931 monatlich etwas Geld. Ariadna, die älteste Tochter, ernährt die Familie zeitweise allein mit dem Stricken von Wollmützen. Die Zwetajewa schreibt für die wenigen, schlecht zahlenden Emigrantenzeitungen: „Immer zählt man Zeilen, und jedesmal stimmt es nicht!“

Seit Mitte der zwanziger Jahre verfaßt sie anstelle von Lyrik und Stücken auf Verlangen der Redakteure vorwiegend — autobiographische — Prosa, die in einer sehr genauen Archäologie des Erinnerns kindliche Sinneserfahrungen noch einmal aufscheinen läßt: die Farbe Grün im „Efeuturm“, das Changieren der Klaviertasten von weiß zu gelb in „Mutter und die Musik“. Die Zwetajewa übersetzt für Zeitungen russische Revolutions- und Volkslieder ins Französische, ringt sich nebenbei Minuten zum Schreiben ab, während der Alltag mehr und mehr zum Betrug am idealen Kanon der Schönheit wird.

1937 muß Efron, der in Frankreich für den sowjetischen Geheimdienst NKWD arbeitete und an politischen Morden wie dem an Trotzkis Sohn Lew Sedow beteiligt war, nach Moskau fliehen. Auch die ebenfalls prosowjetisch arbeitende Ariadne geht zurück „in das Land der Zukunft“, und 1939 folgt ihnen die in Emigrantenkreisen nun definitiv geächtete Zwetajewa mit Murr. Vom Doppelleben ihres Mannes wußte sie erwiesenermaßen nichts.

Zwei Monate nach der Rückkehr wird Ariadne abgeholt und ins Lager gebracht, wenig später verhaftet man auch Efron. Zwetajewa reiht sich ein in die endlose Schlange der Frauen, die vor der Lubanka auf eine Lebenszeichen der inhaftierten Angehörigen hoffen. Anna Achmatowa hat dieses Bild für immer gültig in Versen tradiert. Zwetajewa zieht von Verschlag zu Verschlag, arbeits- und wohnungssuchend. Das Land bleibt ihr fremd, und Murr entzieht sich ihrer aus Einsamkeit okkupierenden Fürsorge. Er schimpft die vorzeitig gealterte dürre Frau im schäbigen braunen Mantel „Dorfhexe“, böse aus Unglück über ihre Isolation zu zweit, für die er ihr die Schuld zuschreibt. Als Zwetajewa wegen des Krieges nach Jelabuga evakuiert wird, ist ihr Weg an die Peripherie besiegelt. Den Freitod Majakowskis und Jessenins hatte sie als „herrlichen, reinen Tod“ und letzten freien Willensakt bewundert.

Am 31. August 1941 erhängt sie sich, der endgültige Verzicht. In einem ihrer Abschiedsbriefe heißt es: „Begraben Sie mich nicht lebendig. Überprüfen Sie es gut.“ Sergej Efron wird 1941 erschossen, der Sohn Murr stirbt 1944, gerade 16 Jahre alt, im Krieg, und Ariadne wird nach sechzehnjähriger Lagerhaft 1955 rehabilitiert. Pasternak beklagte die „alle umfassende Tragödie der Familie“, die sich auch an Achmatowa und Mandelstam vollzog. Zwetajewas Grab ist nicht erhalten.

IV.

1961, gut zwanzig Jahre nach ihrem Tod, erschien im sowjetischen Staatsverlag eine erste Auswahl von Zwetajewas Gedichten. Etwa hundert Briefe an Pasternak gingen durch „übergroße Sorgsamkeit“ verloren: eine Mitarbeiterin des Skrjabin-Museums und große Verehrerin der Zwetajewa, die aus Mißtrauen in die Sicherheit eines Safes die Briefe ständig in einem Handköfferchen bei sich trug, vergaß diesen, völlig übermüdet, in einem Vorortzug.

Das Zwetajewa-Archiv in Moskau ist bis zum Jahr 2000 verschlossen. Die Edition der Schriften, vor allem der Briefe kann daher als work in progress in einer sich erweiternden Vorläufigkeit gelten. Diese Vorläufigkeit erreicht in den Briefausgaben von Suhrkamp und Insel allerdings Perfektion, was die Sorgfalt der Herausgeber und die notwendig opulenten Anmerkungen angeht. „Im Feuer geschrieben“ rekonstruiert den Lebensweg der Poetin chronologisch aus Briefen an verschiedene Adressaten; innerhalb dieses Längsschnitts bilden die an jeweils einen Empfänger gerichteten Briefromane Inseln geistiger Sehnsucht und Tragik. Zusammen mit den separat publizierten Briefen an Rilke, die der Briefroman in höchster (Un- )Vollendung sind, nähert man sich so am ehesten der komplexen Persönlichkeit Zwetajewas über die verschiedenen Vexierbilder an.

Elaine Feinsteins Biographie eröffnet einen fast zu liebevollen, in mancher Hinsicht nicht ganz schlüssigen Zugang zu dieser komplizierten Frau. Zwetajewa war eben keine Antisemitin; mehrmals verbittet sie sich in der Öffentlichkeit den Gebrauch des diffamierenden „Jidd“.

Die noch zu DDR-Zeiten konzipierte, dreibändige Werkauswahl bei Volk & Welt, vom Carl Hanser Verlag übernommen, versorgt den Leser mit einem Querschnitt aus der Lyrik (kein Zyklus ist vollständig abgedruckt), aus der wundervollen Prosa und einem Band Briefe. Wichtiges, gerade politisch „Verfängliches“ fehlt in dieser dennoch schönen Ausgabe mit den vielen seltenen Fotos. Ärgerlich allerdings das offenbar unverändert aus DDR-Zeiten übernommene übervorsichtige Vorwort, das der Zwetajewa eine Begrüßung „des neuen Rußland“ andichtet, als sie sich in der Emigration für Majakowski einsetzt.

Wenn in Marina Zwetajewa „das Eis brannte“, so zeigt sich in den Editionen zu ihrem 100. Geburtstag ein eher beunruhigendes als wärmendes Feuer auf der Spitze eines Eisbergs, dessen größter Teil noch nicht sichtbar ist.

Marina Zwetajewa: „Ausgewählte Werke“, hrsg. von Edel Mirowa- Florinj, aus dem Russischen, mit 37 hist. Fotos, Volk & Welt, zus. ca. 824 S., 78 DM.

Marina Zwetajewa: „Im Feuer geschrieben. Ein Leben in Briefen“, hrsg. u. aus dem Russischen von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag, 1992, 540 S., 48 DM.

Zwetajewa/Rilke: „Ein Gespräch in Briefen“, hrsg. von Konstantin Asadowski, aus dem Russischen von Angela Martini-Wonde u. Felxi Philipp Ingold, Insel Verlag, 1992, 350 S., 48 DM.

Elaine Feinstein: „Marina Zwetajewa. Eine Biographie“, aus dem Englischen von Hans J. Schütz, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990, 376 S., 48 DM.

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