: Alles drin
■ Cambridge plus Oxford ergibt Norfolk — beziehungsweise „Lemprière's Wörterbuch“
Mut hat er ja, dieser Lawrence Norfolk. Mit nicht ganz dreißig Jahren ein Werk vom geistigen und realen Umfang eines Lebenswerkes abzuliefern, das hat was, das ist nicht ohne. In diesem Erstlingsroman mit dem bescheidenen Titel „Lemprière's Wörterbuch“ hat Norfolk denn auch alles Erdenkliche reingepackt: eine Kriminalgeschichte, eine Geschichtslektion, die griechische und römische Mythologie, eine Liebesgeschichte und, nicht zuletzt, das historische London des 18. Jahrhunderts nebst der Entstehungsgeschichte der englischen Ostindien-Gesellschaft. Gleich mehrere Male wechselt der Roman im Laufe der 767 Seiten (inklusive gelehrtem Anhang) auch das Genre, beginnt als Bildungsroman, in dessen Zentrum der von der Mythologie besessene junge John Lemprière steht, mündet in einen grotesken Krimi, der eine derart bizarre Auflösung erfährt, wie sie sich nur E.T.A. Hofmann in einer langen Nacht hätte ausdenken können, und widmet sich, als Beiwerk gewissermaßen, auch noch den sozialen Umwälzungen im Europa dieser Zeit sowie den Masturbationsphantasien des österreichischen Kaisers Joseph — die aber gottlob keinen großen Einfluß auf die weitere Handlung nehmen.
Der Reiz des Romans liegt jedoch weniger in diesen und anderen Feinheiten wie etwa dem — historisch verbrieften! — Blumentopf, der im Juni 1788 „aufgrund der Nachlässigkeit einer Magd“ in London ein Kind erschlug, in der grotesk-bedrohlichen Atmosphäre, die sich langsam um John Lemprière aufbaut. Der hat nämlich seine Heimatinsel Jersey verlassen, um in London das Testament seines Vaters zu entschlüsseln. Der tumbe Tor, der dem historischen Lemprière und dessen Wörterbuch der Mythologie lediglich nachempfunden ist, merkt ziemlich spät, daß er sich in Gefahr befindet, daß ihn sein Wörterbuch, mit dem er sich den Lebensunterhalt verdient, mit grausigen Morden in Verbindung bringt — ausgeführt offenbar nach mythologischem Vorbild. Was ihn wiederum schier um den Verstand bringt.
Wie gesagt: Es ist alles drin in diesem Roman, viel Schauerliches auch bis hin zum gigantischen Skelett, das als Röhrensystem London untertunnelt. Allerdings gibt es zu viele lose Enden, die nicht so recht zusammenlaufen wollen. Über Strecken ist die Erzählweise nicht anders als zäh zu nennen — was auch viel mit der Übersetzung zu tun hat. Der Übersetzer hat sich nämlich, wie er selbst im Anhang gesteht, sehr eng ans Original gehalten — und damit leider der deutschen Sprache an manchen Stellen keinen Gefallen getan. Auf Deutsch schwimmt eben keine „Schule von Fischen“ vorbei, sondern immer noch ein Schwarm derselben, auch wenn es im Englischen „school of fish“ heißt — um nur ein Beispiel zu nennen. Auch die oft direkte Übernahme der englischen Syntax ist als Stilmittel durchaus unbrauchbar. Allein schon der Anglizismus des Apostrophs im Titel müßte die Hüter der deutschen Sprache erschüttern.
Wie aber läßt sich erklären, daß Lawrence Norfolk mit just diesem Buch zum frischerkorenen Sternchen am blinkenden Firmament deutschen Kultursuchens geworden ist? Es muß schlicht und einfach daran liegen, daß dieser noch junge und sozusagen unangekränkelte Autor es schafft, eine Unmenge historischer Ereignisse mit gleichermaßen üppigen Elementen der klassischen Bildung sowie einer streckenweise surrealen bis phantastischen Handlung zu verknüpfen. Sowas fasziniert nun mal, und zumindest die Mixtur gab's noch nie. John Barth mit „Der Tabakhändler“ und T. Coraghessan Boyle mit „Wassermusik“ haben, kein Zweifel, die besseren zeitgenössischen Romane über das 18. Jahrhundert geschrieben — und Umberto Eco den spannenderen historischen Krimi. Norfolk hat aber einen Roman ganz eigener Geschmacksrichtung geschaffen, einen, der trotz aller vordergründiger Bizarrerie viel gelehrte Poetik enthält und den Lesern in jedem Fall und allemal beweist, daß Cambridge und Oxford an Lawrence Norfolk nicht versagt haben.
Wenn er sich nur nicht so oft ins Detail vergraben würde, nicht so vernarrt wäre in seine Figuren! Freaks und Horrorgestalten passieren Revue, umtändeln gleichsam den Helden, der, hierin dem profanen Leser nicht unähnlich, bis zum Schluß nicht ganz begreift, was um ihn herum und mit ihm geschehen ist. Ein wenig wirr ist es halt schon, dieses Buch, und so mancher wird es kaum über Seite 300 schaffen.
Insofern ist dieser Roman, wenngleich nicht unamüsant, natürlich vor allem für unsere FeuilletonredakteurInnen eine Herausforderung. Wer nicht ständig per Anhang und Zeigefinger belehrt werden will, dem möchte ich raten, bei einschlägigem Bedarf lieber zu H.P. Lovecraft zu greifen, wenn's phantastisch gruseln soll, zu Christoph Ransmayr zwecks der Lebendigkeit der griechisch/römischen Mythologie. Was den historischen Krimi und die Welt des 18. Jahrhunderts anbelangt: siehe oben. Annette Jander
Lawrence Norfolk: „Lemprière's Wörterbuch“. Originaltitel: „Lemprière's Dictionary“. Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs. Albrecht Knaus Verlag, München 1992. 49,80DM.
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