: „Der Schmuggel hat mich uffjeregt“
In Berlin begann der Prozeß gegen einen jungen Arbeitslosen, der im April einen Vietnamesen vor den Augen zahlreicher teilnahmslos zuschauender EinkaufspassantInnen erstach ■ Von Ute Scheub
Berlin (taz) — Nein, er wirkt nicht wie ein rücksichtslos agierender Rechtsradikaler. Ein dicklicher braver Junge sitzt da auf der Anklagebank, mit scheuen Augen in einem pickeligen Gesicht. Als er in einer Pause mit seinen Eltern sprechen darf, hängt er weinend in den Armen seiner Mutti. Und doch hat der 22jährige arbeitslose Maurer Mike L. im Ostberliner Bezirk Marzahn am 24. April einen Menschen erstochen. Seit gestern steht er wegen Totschlags an dem 29jährigen Vietnamesen Nguyen Van Tu vor Gericht.
Das, was an jenem Apriltag geschehen sei, „tut mir leid“, murmelt er mit gesenktem Kopf. Mit seinen Kumpels hatte er in einer der Plattenwohnungen in der Plattensiedlung einen Klaren nach dem anderen gekippt — 20 Gläser Apfelkorn und mehrere Bier nach seiner Aussage. Sie waren dann zu einem Einkaufszentrum gezogen, vor dem vietnamesische Zigarettenhändler ihre billige, weil unversteuerte Ware feilboten. Warum Mike L., damals in Jeans, Turnschuhen und Bomberjacke, deren Kisten umtrat, „weeß ick ooch nich. Es kam über mich. Die Leute haß ick wirklich nich, und ich hab auch nix gegen andere Ausländer. Aber der Schmuggel hat mich uffjeregt.“ Warum denn? „Das ist doch verboten.“ Ob seine Kumpels denn nie solche Zigaretten rauchen würden? „Die wollen se zwar nich kaufen, aber manchmal sind se mit dem Geld knapp.“
Was danach geschah, da gehen die Versionen auseinander. Der Angeklagte will sein Messer in Notwehr gezückt haben, nachdem sich eine Gruppe von vier oder fünf Vietnamesen „mit Latten bewaffnet“ und dann auf ihn „eingeschlagen hat“. Aus „Angst und Panik“ habe er mit seinem Butterflymesser auf einen der „Vietschis“ eingestochen. Ja, „Vietschis“ hätten sie die immer genannt, „das ist Umgangssprache, bei uns und in der normalen Bevölkerung“. Der erste der geladenen vietnamesischen Zeugen hat jedoch weder eine kollektive Bewaffnung noch kollektive Schläge durch seine Landsleute wahrgenommen. Er und Nguyen Van Tu hätten den Deutschen nur zur Rede stellen wollen, warum er die Kisten umtrat. Mit entschuldigendem Lächeln für seine Sprachkenntnisse spricht er dem Gericht vor, was er damals fragte: „Warum du so machen? Nicht wieder einmal.“ Da habe der Angeklagte schon das Messer in der Hand gehabt, übersetzt sein Dolmetscher. Als dann doch von hinten eine Holzlatte geflogen sei, habe er zugestochen.
Einig sind sich aber beide, daß ihre Auseinandersetzung jede Menge Schaulustige anzog. An die fünfzig PassantInnen guckten zu, doch niemand rührte auch nur einen Finger, um die Eskalation zu stoppen. „Keiner hat sich geäußert oder eingemischt“, das bestätigt auch der Angeklagte. Vor aller Augen konnte er das Messer in Nguyen Van Tus Lunge rammen. Mike L. rannte weg, die Vietnamesen, auch sein blutendes Opfer, rannten ihm hinterher. Doch nach hundert Metern verließen Nguyen Van Tu die Kräfte, er ging zurück und fiel hin. Ein Landsmann brachte ihn ins Krankenhaus, wo er wenig später starb.
„Ich hatte 'ne Wut jehabt“, sagt Mike L. zur Begründung, warum er nach seiner Flucht mit drei Kumpels und zwei Knüppeln dann doch wieder zum Tatort zurückging. Eine Wut, kein Schuldbewußtsein. Aber als sein Opfer dann am Boden lag, „hab ich nix mehr gemacht. Am Abend bin ich in die Disco im Jugendclub.“ Am nächsten Abend suchte dort schon die Mordkommission nach Zeugen. „Ich war's“, gab Mike L. zu, immerhin.
Der Prozeß wird fortgesetzt.
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