»Das Jammern überwinden«

■ Gregor Gysi über Selbstbewußtsein der Ostdeutschen

Berlin. »Selbstbewußtsein setzt Bewußtsein voraus, sich seines Seins bewußt zu werden.« So theoretisch begann Gregor Gysi am Dienstag abend eine Diskussion im Kesselhaus der Kulturbrauerei im Prenzlberg zu dem Thema »Für ein neues Selbstbewußtsein der Ostdeutschen«. Mehrere hundert Menschen drängten sich auf Eisenbänken und Treppenstufen im Kesselhaus und nebenan in der Kantine vor dem Fernseher, um sich eine Scheibe von Gysis Selbstbewußtsein abzuschneiden.

»Über Nacht wissen die Menschen nicht mehr, wie sie argumentieren sollen«, beschrieb Gysi zu Beginn der Diskussion das Problem der abhandengekommenen Argumentationssicherheit im Osten. Wenn früher »die soziale Schiene immer zog« — alleinstehend mit drei Kindern — sei es jetzt »geradezu fahrlässig« bei Wohnungs- oder Arbeitssuche darauf hinzuweisen. Nachdem Gysi genug Balsam auf die ostdeutschen Seelen gestrichen hatte, forderte er jeden einzelnen auf, »die eigenen Interessen in die Hand zu nehmen, nicht auf andere zu vertrauen, das Jammern zu überwinden und sich auseinanderzusetzen, um Selbstbewußtsein zu gewinnen«.

»Heute stärkt es mein Selbstbewußtsein«, so Gysi, »vor der Währungsunion gewarnt zu haben. Es kratzt jedoch an meinem Selbstbewußtsein, damals einige Sachen nicht gesagt zu haben. Manchmal muß man gegen den Strom schwimmen, um danach mit sich selber im reinen zu sein.« Eine junge Frau fragte ihn, was er einem westdeutschen Arbeitgeber auf dessen Frage antworten würde, worauf ein DDR-Bürger überhaupt stolz sein könne. Statt soziale Errungenschaften aufzuzählen, sprach Gysi von der »Überlegenheit der ‘Ossis‚ gegenüber den ‘Wessis‚ bezüglich ihrer eigenen Erfahrungen«: »Ich kann Ihnen nicht sagen, worauf aus Ihrer Vergangenheit Sie stolz sein sollen. Wenn aus der Warnow-Werft ein Schiff ausgelaufen ist, war ich nicht stolz drauf. Es ist eine Frage des Umgangs mit der eigenen Geschichte. Ich versuche, eine andere Art Selbstbewußtsein für die Menschen in den neuen Ländern darzustellen, und es freut mich, daß das viele im Bundestag ärgert.« Gysi warnte auch vor den Gefahren eines mangelnden Selbstbewußtseins im Zusammenhang mit den rassistischen Überfällen der letzten Monate: »Der Mangel der Ostdeutschen an Selbstbewußtsein macht den Nationalismus gefährlich.« Ein Mittfünfziger ist frustriert, daß »Kritisches nicht mehr ankommt«. Als Beispiel führt er an, daß das Plakat für die Gysi- Veranstaltung zum Selbstbewußtsein der Ostdeutschen, kaum getrocknet, schon abgerissen wurde. Eine gute Frage für Gysi, um seine Schlagfertigkeit unter Beweis zu stellen: »Das muß wohl jemand gewesen sein, der sich das Plakat im Wohnzimmer aufhängen wollte.« Wenig später drückte er den Ernst der Situation in Ostdeutschland aus: »Wir sind an der Grenze, psychisch krank zu werden. Das macht mir riesige Angst.« wahn