Schubert und Ich

■ Musikerbiographie ohne Musik: Peter Härtlings "Schubert"

Sich an heilige Kühe zu wagen, ist Peter Härtlings Spezialität. Die an Lenau („Niembsch oder der Stillstand“) oder Hölderlin („Hölderlin“) erprobte Methode wird diesmal an Schubert weiterentwickelt: Härtling schreibt eine romanhafte Biographie oder, wie es schon bei Hölderlin hieß, eine „Annäherung“. Das Prinzip dieser von ihm selbst erfundenen Gattung ist von magischer Einfachheit: Der Schlüssel, der uns das Geheimnis der großen Genies eröffnet, liegt in der ausführlichen Rekonstruktion ihrer Lebenswelten. Was Schuberts Blick, Ohren, Sinnen begegnet ist, soll für den Leser wiederbelebt werden: „Ich sehe die Topografie der Stadt so, wie er sie lebte. Ich ziehe Gassen nach, ordne Häuserblocks, schraffiere Plätze, suche nach Namen...“ „Ich sammle ein, was er ausstreute. Es ist eine Art Schnitzeljagd.“

Die ersten Schnitzel des Familienromans werden in der Kindheit der Eltern gefunden, danach wird keine Abzweigung bis zum letzten Atemzug verpaßt. Aber Härtling geht nicht bloß Daten sammeln. In seiner „Annäherung“ setzt er nicht nur auf die Ausführlichkeit der Rekonstruktion, sondern auch auf die Macht der Einfühlung. An seinem Vermögen, die gesammelten Daten über Schubert zu beleben und deren Lücken zu ergänzen, soll man den guten Romancier und kreativen Biographen erkennen. Wörtlicher kann man Aragons Auffassung der Literatur als „wahre Lüge“ nicht illustrieren.

Den Konflikt mit dem Vater, die Qual des Lehrerberufs, die leidenschaftlichen Freundschaften, selbst die Brille — „diese eine Brille, etwas zu klein, mit ovalen Gläsern und den durch ein ausholendes Scharnier abstehenden Bügeln“ — nichts hat Härtling in seinem Eifer vergessen — außer eben: die Musik. Zwar führt uns Härtling ein paar interessante Text- und Bedeutungsänderungen vor, die Schubert an seinen Liedvorlagen vornahm, doch ansonsten trampelt er gänzlich unbeschlagen in dessen Eingebungs- und Kompositionswelten herum. „Lachend sind ihm die ersten Takte eingefallen.“ „Das klang mit, als der Reisewagen Wien verließ.“ Ganz wie auf dem bekannten Gemälde entsteht „Die Forelle“: „Jetzt plötzlich beginnen die Zeilen von neuem zu hüpfen. Es ist, als pochten sie an. Er bittet Hüttenbrenner um Notenpapier, zieht eine entschuldigende Miene, rückt den Stuhl ans Fensterbrett und ist für den Freund unerreichbar.“ Damit hält Härtling Schönheit und Tiefe von Schuberts Musik auch schon für ausgelotet.

Freilich ist es nicht leicht, über Musik zu schreiben. Die Vielfalt der Schubert-Literatur (Fröhlich, Gülke, auch die monumentale Studie von Brigitte Massin, die Härtling zu ignorieren scheint) zeigt aber, daß es vielfältige Wege gibt, die Biographie — die psychische Geschichte — und das musikalische Werk aufeinander zu beziehen. Warum also, wenn man zur Musik nichts zu sagen hat, sich gerade einen Komponisten als Opfer seines biographischen Eifers aussuchen? Das Alibi einer literarischen Verklärung des Biographischen ist keine Entschuldigung. Dafür ist Härtlings Erzählung viel zu kitschig.

Diese Musikerbiographie ohne Musik läßt den Verdacht schöpfen, sie sei, wie schon damals „Hölderlin“, für Härtling nur ein weiterer Vorwand, sich mittels eines tragisch-berühmten Decknamens selbst zu vergrößern. Der Biograph inszeniert seine narrative Präsenz bis zur Koketterie, indem er den Leser penetrant daran erinnert, daß er es ist, der den Zugang zum Genie verschafft. Daß Härtling den Weg zu ihm auch ständig verstellt, indem er in peinlicher Familiarität die Grenzen zwischen sich selbst und „seinem Schubert“ verwischt, wird auch in jenen Passagen nicht aufgehoben, in denen er sich larmoyant der Grenzen seiner Einfühlungskraft bewußt wird — und den Leser natürlich auch an diesem Ich-Drama teilhaben läßt: „Ich begleite ihn, aber ich kann die Oper, die er als seine erste hörte, nicht mit ihm hören. Nirgendwo wird sie mehr aufgeführt. Er hört anders als ich. Schon wissend und lernend. Er hält, wobei ich vermutlich nicht seiner Meinung wäre, Weigls Musik für anregend und gelungen und beweist damit, daß sogar er, ganz eigen gestimmt, seiner Zeit hörig ist, verwickelt in ästhetische Übereinkünfte.“

Soviel Besserwisserei — schade um Schubert. Béatrice Durand

Peter Härtling: „Schubert“. Luchterhand Literaturverlag 1992, 331 Seiten, 36 DM.