: Postbabylonische Rhapsodien
„SprachTonArt“, das zweite Festival der Berliner Gesellschaft für Neue Musik ■ Von Frank Gertich
„Der Ton macht die Musik“ — so sagt man, und das ist Sprache. Über die Intonation, den Sprachton, teilt sich in jedweder Kommunikation eine komplexe Sinnvielfalt mit. Dem gedruckten Wort bleiben diese Ausdrucksmöglichkeiten weitgehend verschlossen. Manche glauben den Ursprung der Musik in der kunstvollen Überhöhung dieser Eigenschaft menschlichen Mitteilens zu finden. Ziemlich früh schon im Verlauf der Musikgeschichte war jedoch die Geschmeidigkeit der kontinuierlichen sprachlichen Tongebung verlorengegangen zugunsten von diskreten und in ihren Verhältnissen hierarchisch organisierten Tonschritten. Deren verschiedene Abfolgen wiederum wurden der strengen Ordnung der Tonarten und den damit verbundenen Organisationsschemata unterworfen.
In diesem Jahrhundert haben sowohl Musik als auch Literatur Erscheinungen hervorgebracht, die sich der gemeinsamen Potenzen beider Künste wieder versichern wollen. Noch fehlt uns ein Oberbegriff, der Ton- und Sprach- Kunst vereinigen würde. Das diesjährige Musikfest der BGNM, der Berliner Gesellschaft für Neue Musik, haben die Veranstalter neologisch „SprachTonArt“ genannt. Die Erkundung des Niemandslandes zwischen Literatur und Musik findet im akustischen Medium statt. Schallwellen tragen die Botschaften, nur vereinzelt sichten wir die Papierschiffchen der konkreten Poesie. So ist es denn auch kein Zufall, daß gerade ein Verein, der sich der Musikpflege widmet, dieses Thema präsentiert. Die BGNM hatte sich im November 1990 konstituiert, also kurz nach der Herstellung der sogenannten deutschen Einheit, die die zu diesem Zeitpunkt erst wenige Monate alte GNM der DDR obsolet werden ließ. Das unkoordinierte Gemisch von konkurrierenden Gruppen und Veranstaltern, das den Bereich Neue Musik in (vormals West-)Berlin zu diesem Zeitpunkt belebte, ließ es insbesondere einigen der an geordnete Verhältnisse und straffe Reglementierung gewohnten Ex- DDR-Komponisten ratsam erscheinen, eine „Interessenvertretung“ zu schaffen, die sich um die Abschöpfung der Gelder aus den vom Berliner Kultursenat bereitgestellten „Töpfen“ kümmert.
Man tat sich also mit einigen Vereinsmeiern aus West-Berlin zusammen und wählte einen Vorstand. Immerhin gehörten ihm Persönlichkeiten an, deren unkonventionelle Musikauffassung darauf schließen ließ, daß die Arbeit des Vereins die Szene in Berlin bereichern könnte, zum Beispiel die Musikwissenschaftsprofessorin Helga de la Motte-Haber, deren Vorliebe für Grenzüberschreitungen schon so manchen ihrer Standeskollegen verwirrte. Zum Präsidenten kürte man Matthias Osterwold, der sich mit seinem Verein „Freunde Guter Musik Berlin“ nicht nur um die Präsentation schwer einzuordnender Klangkunst verdient gemacht hat, sondern in dieser Eigenschaft auch im Klinkenputzen bei Senatskulturreferenten wohlgeübt war.
Doch das erste Musikfest der BGNM, das unter dem Label „Musik zur Zeit — in Berlin“ im Dezember 1991 stattfand, konnte diese positiven Erwartungen leider nicht erfüllen. Vielmehr wurden überwiegend verstaubte Schubladenhüter von Komponisten, die „zur Zeit“ Mitglied in der BGNM waren, dem gähnenden Publikum vorgenudelt. Das sollte dieses Jahr anders werden. Unter dem Arbeitstitel „Sprache und Musik“ hatte sich schon vor mehr als einem Jahr eine Arbeitsgruppe gebildet, die bald auf ein arbeitsfähiges Format zurechtschrumpfte. Die Leitung übernahm der Komponist Martin Supper, der sonst das elektroakustische Studio der Berliner Hochschule der Künste betreut.
Vom 24. bis zum 27. September fand das zweite Festival dann tatsächlich statt und begann gleich mit dem Besten: Zum Auftakt brachten die meisten der Mitwirkenden je eine kurze Nummer zum Vortrag, konzise Perlen der audio art, aufs bunteste mit Leben erfüllt. Als „master of ceremonies“ leitete David Moss jedes dieser Stückchen durch eine Probe des von ihm unvergleichlich beherrschten Extremgesanges ein.
Die folgenden Abendkonzerte wurden tagsüber von Vorträgen flankiert. Besonders aufschlußreich eine von Klaus Schöning zusammengestellte Montage aus Teilen von Rundfunk-Hörstücken des WDR. Leider werden diese Produktionen nur allzu selten über das Sendegebiet des WDR hinaus bekannt. Schöning ist der bedeutendste Förderer dieser radiophonischen Gattung; er leitet die Abteilung „Akustische Kunst“ beim WDR, die schon seit Jahrzehnten Pionierdienste leistet.
Um halb acht begann danach der „Konzertakt“ und um halb elf die „late show“. Dabei stellte sich heraus, daß manche besser bei der kurzen Form des ersten Abends verblieben wären. Als Ausnahmen fielen aus der verbreitenen Langeweile heraus Bernard Heidsieck, ein auch persönlich charmanter Dichter der Lautpoesie, oder Tom Johnson, der mit seinem Stück „Musik und Fragen für Stimme und Glocken“ auf geniale, aber höchst gelassene Weise mitten ins Zentrum der das Festival bestimmenden Fragestellung nach dem Verhältnis von Musik und Sprache traf.
Die beiden late shows waren um einiges ereignisreicher. Der Australier Chris Mann trug seinen kryptischen Text „Changing the Subject“ in extremer Geschwindigkeit und mit rätselhaften Intonationsjonglagen vor, eine verstörende und schwer zu vergessende Darbietung. Frieder Butzmann und Thomas Kapielski lieferten zwar nicht die im Titel versprochenen „10 Neuen Indischen Stellungen“, dafür aber dem Leben abgelauschte Dialoge wie den folgenden: „Graue Schweine — Jib's ditte?“ — „Na siehste das denn nich?“ — „Ick meine: Sind die echt?“ — „Na, was heißt denn heut' schon ,echt‘.“
Als zweite late show war als „ultimative berlin bluntciety rap beatz“ eine HipHop-Party vorgesehen. Leider wollte die Dancefloor-Stimmung nicht so recht aufkommen, obwohl sich „mastermind roby rob“ redlich Mühe gab. Der Rahmen war wohl ziemlich unpassend: das „Podewil“ in Berlin-Mitte, ein barockes Bürgerpalais, das der DDR als „Haus der Jungen Talente“ diente. Die Lage an der Hausbar ist immer noch katastrophal, aber die Räume in dem noch nicht lange wiederaktivierten Kulturzentrum waren für die BGNM leicht zu haben, da — wie die Konsonanz es fügt — deren ehrenwerter Präsident zugleich das Musikressort des Podewil leitet.
Das Programmbuch des Festivals mit Aufsätzen unter anderem von Daniel Charles, Diedrich Diederichsen und Dieter Schnebel kann bei der Berliner Gesellschaft für Neue Musik e.V., Erkelenzdamm 11-13 in 1000 Berlin 36 bestellt werden. Preis: 10 Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen