: Das Jahrhundert starb
Die deutsche Geschichtswissenschaft hat auf dem 39. Historikertag in Hannover versucht, das Jahr 1989 zu verarbeiten ■ Von Rüdiger Soldt
Das 20.Jahrhundert war kurz. Es begann 1918 mit der Auflösung der Konstituante durch die Bolschwewiki in der Sowjetunion, endete 1989 mit den demokratischen Revolutionen in Ost-Europa, dem Zerfall des Sowjet-Imperiums. Auf das lange 19. Jahrhundert folgte ein kurzes: ganze 71 Jahre alt.
Auch die Geschichtswissenschaft steht jetzt vor einem vorzeitigen, von ihr definierten Epochenende. Schon die 80er Jahre sind durch das rasche Jahrhundertende historisiert und somit schneller als üblich zum Gegenstand der Geschichtsschreibung geworden. Aussagen von Zeitzeugen, Ergebnisse der Oral-history-Forschung können Archivalien gegenübergestellt werden. HistorikerInnen stehen vor Interpretationschancen und einer selten dagewesenen Quellenvielfalt. Der 39. Historikertag konzentrierte sich unter dem Motto „Europa — Einheit und Vielheit“ auf die Folgen des plötzlichen Fin de siecle. Allgemeinverständlich, selten vertieft in esoterische Methodenstreitereien, wurde über die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, die Umbrüche in Osteuropa und die Zukunft der Alltags- und Erfahrungsgeschichte diskutiert.
Kurz: Die deutsche Historikerzunft beansprucht für sich, Orientierungswissen für die Tagespolitik anzubieten. Die Koordinaten des historischen Bewußtseins, so Wolfgang J. Mommsen, seien durch die Revolutionen in Osteuropa grundlegend verschoben, ohne „historische Orientierung“ sei in der jetzigen Situation gar nicht auszukommen.
Zur Erinnerung: Vor drei Jahren schwadronierte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, ein Hegel im State Departement, im siegesgewißen Überschwang vom Ende der Geschichte. Die Geschichte selbst sei beendet, weil es zum liberal-kapitalistischen System keine Alternative mehr gebe. Geschichtlicher Fortschritt sei einfach nicht mehr denkbar. Was zunächst noch als Provokation eines neuen Posthistoire-Denkers ernst genommen wurde — schließlich hatte auch Walter Benjamin an der Zielstrebigkeit und Sinnfülle des Geschichtsprozesses gezweifelt —, entpuppte sich als Bluff. Seitdem nationalistische Bewegungen wieder geschichtsmächtig geworden sind, erntet Fukuyamas theoretischer Schnellschuß nur noch Gelächter, für Hans Ulrich Wehler sind seine Thesen gar „exquisiter Schwachsinn“.
Das Ende der bipolaren Weltordnung belebte die Diskussionen auf dem Historikertag konjunkturell, weniger esoterische Fachgespräche, mehr publikumswirksame Podien- und Rundgespräche. Antworten werden jetzt wieder in den Geschichtsbüchern gesucht. Für die Geschichtswissenschaft stellt sich nach 1989, wie Timothy Garton Ash ironisch formulierte, die Frage: „What's left?“ Was bedeutet der historische Umbruch für das geschichtliche Denken? Warum ist der Kollaps der Sowjetunion weder von Historikern noch von Politologen prognostiziert worden? Aber auch: Wie ist die Geschichte der DDR aufzuarbeiten? Kann es eine Alltagsgeschichte des Stalinismus geben?
Vor dem Hintergrund der Epochenwende lebte auch der alte Streit zwischen Alltagsgeschichte und Sozialgeschichte wieder auf. Soll sich die Erforschung der Vergangenheit an sozialen und ökonomischen Strukturen, Verbänden, Organisationen oder an der Alltagserfahrung des einzelnen Individuums orientieren? Sollten Intentionen oder Erfahrungen im Vordergrund stehen? Jürgen Kocka (Berlin) wiederholte seinen Vorwurf, die Alltagsgeschichte würde sich mangels Theorie im „historischen Klein-Klein“ verlieren. Erfahrungsgeschichtlich könne nicht aufgeschlüsselt werden, warum Proteste zu bestimmten Zeitpunkten erfolgreich seien. Die Konzentration auf den Alltag, sogenannte mikrohistorische Untersuchungen, würden Geschichte zu Geschichtchen verflüssigen. Der plötzliche Zusammenbruch der DDR sei nur an Hand struktur- und prozeßgeschichtlicher Untersuchungen zu klären.
Sicher hat die klassische Gesellschaftsgeschichte, wie sie Hans Ulrich Wehler und Jürgen Kocka vertreten, schon mehr von den alltagsgeschichtlichen Untersuchungen gelernt, als die apodiktische Diskussion der Kontrahenten vermuten ließ. Ohne Zweifel ist die Sozialgeschichte in den letzten Jahren kulturgeschichtlich erweitert worden, auch wenn Kocka diese Entwicklung als „luftigen Kulturalismus“ geißelte und vor postmoderner Beliebigkeit warnte. Wichtiger noch wird die Frage nach der Synthese werden: Wie sind die Mosaiksteinchen der immer detailbesesseneren mikrohistorischen Untersuchungen in einer Synthese zu bündeln, wie kann die Fallstudie über Arbeitersolidarität am Hochofen in Bochum in gröbere historische Zusammenhänge integriert werden ?
Eine Sektion zu den „Europäischen Perspektiven des Verfassungsstaates“ reflektierte ebenfalls das Ende der Epoche. Der Verfassungshistoriker Dieter Grimm befürchtete, daß der europäische Verfassungsstaat, wie er nach 1789 entstanden ist, den staatlichen Aufgaben nicht mehr gewachsen sein könnte. Die Verantwortung des Staates werde zwar immer größer, zum Beispiel bei der Erhaltung einer gesunden Umwelt, die Steuerungsfähigkeit wachse aber nicht mit. Die Entwicklung alternativer Energien könne der Staat nicht garantieren wie etwa die Gewährung der Grundrechte. Deshalb sei der Verfassungspatriotismus ein „auslaufendes Modell“.
Auf der abschließenden Podiumsrunde zum Umbruch in Osteuropa wurde vor allem die Hoffnung, die Nachfolgestaaten könnten alsbald zu funktionierenden Demokratien werden, gedämpft. Timothy Garton Ash (Oxford) wollte das abrupte Ende des Sowjetkommunismus nur noch als „Refolution", einer Mischung aus charismatischer Reform von oben und Druck von unten, interpretiert wissen; Manfred Hildermeier (Göttingen) warnte vor dem Begriff „demokratische Revolution“. Auch bei den HistorikerInnen ist aus der revolutionären Euphorie eine ratlose Katerstimmung geworden.
Darüber, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts nun eigentlich zu schreiben ist, ob struktur- oder ereignisgeschichtlich, werden sich die Historiker auch noch in zwei Jahren in Leipzig streiten. Daß es ein einheitliches Modell, Geschichte zu schreiben, vom „Silicon Valley bis Kasachstan" bei der methodischen Vielfalt des Faches nicht geben wird, hat auch vor diesem Historikertag eigentlich niemand ernsthaft bezweifelt. Der Alptraum von der totalen Machbarkeit der Geschichte ist nicht erst seit Fukuyama passe.
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