: Marschmusik und nichts zu feiern
■ Festveranstaltungen und Protestversammlungen: Die Demonstrationen zum Tag der Einheit verliefen weitgehend friedlich/ Beim Platzkonzert auf dem Alexanderplatz gab nicht die Einheit den Ton an
Mitte. Als die 298th United States Army Band »Rock around the Clock« und »In München steht ein Hofbräuhaus« zum besten gibt, fangen die Umstehenden an mitzugehen. Der Dirigent hat nach dem Einsatz nicht mehr viel zu tun, tänzelt fingerschnippend um seine Kapelle herum, ermuntert mit »Yeah«, »All together now« oder »All right« und freut sich an den 300 fußwippenden und schunkelnden BerlinerInnen, die zum Platzkonzert auf dem Alexanderplatz zusammengekommen sind.
Die sind ebenfalls ganz begeistert. »Eine prima Mentalität haben die Amerikaner«, meint eine ältere Dame, die extra aus Karlshorst gekommen ist, »und die Musik, so schwungvoll!« Eine andere hält es nicht mehr an ihrem Platz. Zunächst versucht sie sich, alle Regeln des Gesellschaftstanzes souverän mißachtend, an einem Rock 'n' Roll, wiegt sich dann, Kußhände werfend, in den Hüften und umrundet salutierend im Stechschritt die Musikanten. »Ossis und Wessis sollten alle zusammen tanzen«, findet sie.
Zu feiern gebe es für sie nichts am Tag der deutschen Einheit, sagt eine Rentnerin. Drei Tage vor ihrem 35jährigen Dienstjubiläum im ehemaligen DDR-Verkehrsministerium habe man sie in den Zwangsruhestand geschickt, ihre Miete sei in zwei Jahren von 58 Mark warm auf 290 Mark kalt gestiegen, und daß es mit den Ausländern so überhand nehme, mache ihr zusätzlich Sorgen.
Auf die »Golden Highlanders« aus Schottland wartet ein AOK- Angestellter aus dem Westteil der Stadt. Neben der Musik schätzt er vor allem die prächtigen Uniformen. »Das ist doch etwas ganz anderes als das Mausgrau von unseren! Dabei haben wir doch auch so traditionsreiche Prachtuniformen, die sollten sie wieder einführen!« Das Datum sagt ihm gar nichts. »Dritter Oktober? Das ist der Tag, an dem man die Mauer ein Stückchen höher hätte bauen sollen«, findet er. Er merke die Vereinigung vor allem an seiner Lohntüte, außerdem sei es sehr traurig, daß mit den abziehenden Militärs ein Stück Internationalismus für Berlin verlorengehe.
Vor zwei Jahren habe er das ganz anders gesehen, meint ein aus Köpenick stammender Ingenieur. Auf Gleichheit habe er gehofft und nicht darauf, jetzt nur zwei Drittel soviel wert zu sein wie seine West- Kollegen bei der Bundespost. »Von der Vereinigung sind wir weiter entfernt denn je.«
Andere musikalische Klänge, Trommel- und Sambarhythmen begleiten den Demonstrationszug, zu dem das Bündnis gegen Rassismus und Militarismus aufgerufen hatte. Von der Oranienstraße ausgehend, demonstrierten rund 6.000 Personen gegen die Änderung des Artikels 16, gegen nationalistische und militärische Aufrüstung sowie gegen Sozialabbau. Während der Abschlußkundgebung der weitestgehend friedlich verlaufenen Demonstration auf dem Rosa-Luxemburg-Platz wurde eine Deutschlandfahne verbrannt. Die mit 1.500 Beamten angerückte Polizei räumte die Kreuzung, die Veranstaltung endete ohne weitere Zwischenfälle.
Während der Regierende Diepgen abends mit 2.000 geladenen Gästen unter dem Fernsehturm deutsche Einheit und ost-westdeutschen Optimismus feierte, kam es in Kreuzberg doch noch zu Auseinandersetzungen. Etwa 150 Personen warfen Bauwagen und einen Kleinlaster um und entzündeten ein Feuer auf dem Oranienplatz. Es gab insgesamt 110 Festnahmen.
Bereits am Freitag hatten auf einen Aufruf des DGB hin 1.000 Menschen auf dem Alexanderplatz »für eine soziale Wende in der Politik«, gegen Arbeitslosigkeit und Fremdenhaß demonstriert. cor
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