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Das Fahrrad — Autoersatz und Kultobjekt

■ Zweiradmesse in Köln: Der Drahtesel mausert sich zum High-Tech-Fahrzeug

Köln (taz) — Mal ganz ehrlich: Würden Sie eine gemeinsame Messe veranstalten für Pferde und Stühle, bloß weil beide vier Beine haben? Oder eine für Autos und Kinderwagen? Beide kommen schließlich auf vier Rädern daher. Fast genauso skurril erscheint eine Veranstaltung für die beiden so verschiedenen Zweiräder, zu der bis gestern in Köln die Menschen drängten, als ginge es zum FC in besseren Tagen: Die IFMA, Internationale Fahrrad- und Motorrad- Ausstellung.

Motorräder gelten als nervige Krachmacher und Umweltsünder fast wie ihre vierrädrigen Geschwister. Das Fahrrad dagegen ist Inbegriff ökologischen Verhaltens. Umweltbewußt: Das ist das wichtigste Image, das eine Wirtschaftsbranche zur Zeit haben kann. Und so boomt das Fahrradgeschäft. Für 1992 erwartet die Branche eine Verkaufszahl, die rund 40 Prozent über der von 1989 liegt. Umsatz bei sechs Millionen verkauften Rädern: 3,5 Milliarden Mark. Da kommt auch Autobahnminister Krause PS-stark vorgefahren, um der Radlerwelt Lobeshymnen zuzurufen. Er weiß sich mit den Pedalisten einig: Radfahren ist in, das gute Gewissen sitzt mit auf dem Sattel, umweltbewußt und rein kommen die Benutzer daher.

Doch die IFMA ist alles andere als eine Öko-Messe. Und so weit liegen die beiden Zweirad-Branchen gar nicht auseinander. Mittlerweile nämlich ist der Fahrradmarkt zu einem weitverzweigten, schillernden Kultbetrieb geworden. Das Rad von heute wird individuell komponiert und kann leicht den Preis eines Kleinwagens kosten. Und die Menschenmassen von Köln drängten sich um so heftiger um die Stände der über 2.000 Aussteller (18 Prozent Zuwachs), je mehr Radl-High-Tech dort zu bewundern war. Der Carbon-Rahmen „Mach 3“ will den Weg Richtung Galaxis zeigen. Flugs die neuen Federungen für Sattel oder gleich den ganzen durchschwingenden, handgefertigten Titanrahmen montiert. Gewichtsersparnis um jeden Preis: Das Rahmenrohr eines italienischen Anbieters (Biciclissima“) ist nur noch 0,4 Millimeter dick, dünner als eine Postkarte. Kenner zahlen pro halbem Pfund Gewichtsersparnis tausend Mark und mehr. Wenn nur die Radler selbst nicht manchmal schlicht zu fett wären. Ein Händler: „Bei Leichtbau für schwerfällige Fahrer tasten wir uns technisch an die Grenze heran.“

Designerklingeln vereinen Optik mit Akustik, die innovative Elektrosirene bietet Summ- und Schrillsignale für alle Fälle. Der Körper wird geschützt mit der „Vierkanal-Faserhülle rund um den sensiblen Body“, der Radlerhelm hat individuell aufpumpbare Polsterkissen und in den Gepäckträger gehört der Akku-Kühlschrank. Bremsen geht wie von selbst: Wem indes die „Wunderbremse Kraftbacke“ nicht reicht, versucht sich mit den ersten Prototypen der Scheibenbremsen.

Das Fahrrad wird zum Autoersatz. Die neue Siebengang-Nabenschaltung heißt „Getriebe“. Der Dynamo heißt jetzt „Aggregat“. Neu auch: das Erste-Hilfe-Set und das „Tuning-Kit“. Statt von Schutzblechen sprechen die Kenner von Kotflügeln (die nicht klappern). Ein Händler bietet elektronische Alarmanlagen an, wenn ein Langfinger das Kettenschloß durchschneidet. Auch Parkprobleme gibt es schon, doch: Neue Hängesysteme für die Garage helfen, „den Luftraum über der Motorhaube des Autos zu nutzen“.

Die frisch-freche Ausstellung „Gegen Verkehr“ des BUND über Fahrrad und Autowahn findet hingegen nur wenig Zuspruch. Das liegt nicht daran, daß sie im Abseits einer Ecke neben den Toiletten plaziert wurde. „Die meisten Leute“, sagt Thomas Schubert vom Verbund Selbstverwalteter Fahrradbetriebe, „kommen zur Messe, um viele geile Glitzerdinge zu bestaunen.“ Und wenn die Stadt keine Luft mehr zum Atmen läßt, hilft die individuelle Lösung: Man packt das Rad aufs Autodach und nichts wie weg Richtung Feld, Wald und Wiese. Fast schon die Hälfte des Gesamtumsatzes verbuchen die Mountain- und All-Terrain-Bikes für sich. Wir empfehlen „Hilli Billi“ — „das superhaltbare Gepäckträgersystem für extremste Ritte auf den Mounties“. Bernd Müllender

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