piwik no script img

An die Dame mit dem Putenfleisch

■ 72 Zeilen Haß von einer Wartestellenbenutzerin

Schon immer habe ich die Straßenbahnhaltestellen-Wartehäuschen gehaßt, die ja keine Häuschen sind, sondern jämmerlich zugige Konstruktionen, eigens von einer perversen architektonischen Phantasie dazu entworfen, die ohnehin schon durch den Zwang zur Benutzung von stickigen Massenverkehrsmitteln gedemütigte Bürgerin durch falsche Vorspiegelung eines Wetterschutzes zu beleidigen und zu erniedrigen.

Am meisten aber hasse ich die in diesen verlogenen Gebilden angebrachten Werbeplakate, vor deren widerwärtigen Anblick es kein Entrinnen gibt. Kaum nämlich ist man der „Dame mit dem Putenfleisch“, zu allem Überfluß auch noch ein Audrey-Hepburn-Verschnitt, durch eiligen Einstieg in die Straßenbahn entkommen und damit ihrem Lächeln, das in Wirklichkeit aber nur ein verzerrtes Grinsen ist, da giert sie einem an der nächsten Haltestelle schon wieder entgegen.

Nach wenigen Stationen hat sie einen derartigen Abscheu vor Putenfleisch und der damit befaßten Imbißkette erregt, daß nur der noch weitaus größere Abscheu davor, einer so abgrundtief lächerlichen Provokation nicht standhalten zu können, den aufsteigenden Brechreiz unter Kontrolle hält.

Diese heroische Brechreizkontrolle aber wird auf heimtückische Weise unterlaufen von dem nicht minder abstoßenden Plakat eines nackten Mannes, vielmehr Männleins, welches, beflügelt anscheinend von einem gemeinen Parfum, eine krawattentragende Frau allerdümmlichst und pseudo-erotisch anzuspringen gedenkt. Keine Haltestelle vergeht, ohne daß der mögliche Appetit auf Putenfleisch zwangsläufig und naturgemäß durch einen unüberwindlichen Ekel vor Putenfleisch ersetzt wird, und ebenso vergeht keine Haltestelle, wo nicht zusätzlich der mögliche Appetit auf parfum-untermalten sogenannten Sex zwangsläufig und naturgemäß ersetzt wird durch einen unüberwindlichen Ekel vor jeglichem Sex überhaupt.

Diese ständige und ununterbrochene Ekel- und Brechreizerregung ist für die tägliche Straßenbahn- Zwangsbenutzerin eine solche Qual, Seelenerniedrigung und schließlich seelische-körperliche Vernichtung, daß sie ohne weiteres auf den Bus umsteigen würde, wenn dieser nicht gemeinerweise an gerade denselben Haltestellen halten und damit alle Hoffnung auf einen lebbaren und gleichzeitig umweltbewußten Ausweg zunichte machen würde.

Cornelia Kurth

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen