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Menschen im Spiegel

■ Gorkis „Nachtasyl“, inszeniert von Barbara und Jürgen Esser, im Brauhauskeller: Premiere und Ereignis

Der Brauhauskeller ist ein langer, kahler, unchic öder Schlauch. Wir Zuschauer setzen uns auf die Stühle auf der einen Schlauchseite. Vor der pickligen Wand uns gegenüber, ohne Bühne, Aug in Aug wie in einem Spiegel, sehen wir Menschen auf den gleichen Stühlen sitzen. Wenn wir auf unseren Stühlen erstarrt sind, beginnen sich unsere Spiegelbilder zu bewegen.

Der Lange im Trenchcoat nimmt dem Mädchen Nasstja (Julia Wolff) ihren Roman weg. Nasstja erzählt von einem Liebhaber, der so leidenschaftlich wie ihre Romanvorlage ist, und der im Trenchcoat, der „Baron“ (Jean-Pierre Cornu), sagt, sie lüge. Er erzählt von Gut, Gesinde und Gespannen, die er einst besessen. Sie sagt, er lüge.

Jeder von denen gegenüber hat ein nicht so kleines Problem, der im schwarzen T-Shirt (Dirk Plönissen) war mal Schauspieler, jetzt ist er erschüttert, weil der Arzt gesagt hat, sein Organismus sei vom Alkohol zerfressen. Der Schlosser (Thomas Höhne), hat seine Wut über die Malaise der Welt an seiner Frau (Caroline Joana Eber) abgelassen, die, unbeachtet von ihm, neben ihm hinstirbt. Alle anderen hängen mit hartnäckiger Hoffnung an einem ziemlich schäbigen Leben, das sie in dieses Nachtasyl verschlagen hat: Satin (Fried Gärtner), der mit Geld und Worten spielt und philosophiert, genau wie Kostylew (Harald Schneider), der Betreiber des Nachtasyls, der seine Frau Wassilissa (Cornelia Kemper) prügelt, die Wasska (Soeren Langfeld) liebt, der von Diebstahl und der Hoffnung auf Natascha (Marina Mathias) lebt, Natascha, die dafür Prügel von Wassilissa bezieht.

Barbara und Jürgen Esser, Hansgünther Heymes bewährtes Regieteam, haben sehr viel weggelassen aus dem berühmtesten, genau 90 Jahre altem Stück von Maxim Gorki. Sie haben außer auf einige Figuren und auf die Nietzeanischen, philosophischen Reden von Satin auf jegliche Folklore des Elends verzichtet. Die Spieler uns gegenüber ähneln nicht den Geschlagenen der Käthe Kollwitz sondern, ich sagte es, uns. Der elendssoziale Teil, daß sie Dieb, Hure, Spieler sind, wird rausgelassen. Es wird auch nicht gebrüllt und geröchelt, und zum Saufen geht man hinter die Bühne, wo auch die eine entscheidende Schlägerei stattfindet. Wir sehen ihr Ergebnis, eine zerstörte Natascha, einen erstarrten Wasska. Die Inszenierung läßt auch den Zerstörten ihr Geheimnis.

Keine soziale Anklage also, kein Mitleid mit denen da unten, jedenfalls dies nicht hauptsächlich, was bleibt aber dann? Es bleibt die Konfrontation im Spiegel, mit Menschen, die ihr Leben ohne Hoffnung nicht aushalten. Und dann kommt einer, Luka, ein Prediger (großartig ins Orientalische verfremdet von Orhan Güner), der jedem seine Hoffnung auf Erlösung bestätigt und sagt, wo auf Erden sie zu finden ist: Für den trinkenden Schauspieler in dem Entziehungsheim mit den marmornen Böden, für Wasska in Sibirien, wo er mit Natascha ein neues Leben anfangen will.

Luka verwandelt die Hoffnungen in konkrete Utopien und die Duldenden in Täter. Als am Ende seine Marmorsäle nicht erreichbar sind, hängt sich der Schauspieler auf und Wasska gelangt durch die Tötung von Kostylew nicht ins gelobte Land, sondern ins Zuchthaus.

Nachtasyl, die zweite Premiere unter der Intendanz von Heyme, ist die low budget-Kehrseite der ersten, Helena. Aus dem Nichts an äußeren Mitteln und den salzblühenden Kellerwänden ist eine Parabel von manchmal atemraubender Eindringlichkeit entstanden. Die Schauspieler, davon Kurt Ackermann, Soeren Langfeld und der großartige Fried Gärtner aus dem alten Ensemble, sind (alle!) von einer ebenso unaufdringlichen wie absolut zwingenden Präsenz. Und die Wassilissa der Cornelia Kempers, aus deren warmherziger Brust plötzlich ein Kichern quillt, so naturgewaltig unaufhaltsam wie ihre Lust zu schlagen — wäre nicht der ganze Abend schon ein Ereignis, dies allein wäre es. Uta Stolle

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