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Die wahren Lügen

Hansgüntehr Heyme inszenierte am Bremer Schauspielhaus „Helena“ von Euripides  ■ Von Lore Kleinert

Die Dame mit dem elegant-schwarzen Brokatkostüm und der Perlenkette um den Hals erzählt eine ungeheuerliche Geschichte. Ein zehn Jahre langer Krieg wurde um sie geführt, eine Stadt zerstört, und sie war nicht dabei; ein Trugbild mit ihren Zügen ersetzte sie: die schöne Helena. Seit 17 Jahren wartet sie auf ihren Gatten Menelaos, unversehrt, und sie begehrt, an den Schrecken des Krieges in ihrem Namen nicht schuld zu sein. Mit der Wichtigkeit ihres Namens kokettiert sie, doch eine beiläufige kleine Übung an der Ballettstange vor dem großen Spiegel mißlingt ihr. Helena ist älter geworden. Mehr von dem Druck, unter dem sie steht, verraten die schönen Hände der Margit Carstensen, die in diesem Stück nach 21 Jahren wieder auf der Bremer Bühne steht. Wie selbständige Wesen zelebrieren sie Gesten der hilflosen Beschwörung und der Abwehr, heben sich hilflos über ihren Kopf, legen sich auf ihre Wangen wie nach einem Schlag, ballen sich zur Faust — und lösen sich sofort, wenn Helena geküßt wird. Ihre Kraft reicht gerade aus, um die langen, braunen Packpapierbahnen, die von der Decke hängen, zu durchlöchern, bis sie heruntergezogen werden und die Grabkammer zwischen Spiegelwand und ägyptischen Mumiensärgen enthüllen. Sie reicht aber auch zur Intrige gegen den ägyptischen Königssohn, der sie heiraten will. Sie schafft den zurückgekehrten Menelaos im weißen Haar unter dem Vorwand seiner eigenen Totenfeier auf ein Schiff und flieht mit ihm. Menelaos, dessen falsche Helena sich in Rauch auflöste, kann den Schein des Siegers von Troja wahren, weil sie das Bild der begehrenswerten Hure mit dem Schein der Ordnung von Ehefrau und Ehemann auslöschen will: „Zu lieben, wer mich liebt, ist, was ich nicht erst jetzt zu lernen brauche.“

Eine ungeheuerliche Geschichte: vor 2.404 Jahren demontierte Euripides Helenas Mythos und legte bloß, daß der wohl größte Krieg der alten Geschichte umsonst geführt worden war. Worte, Taten hätten ihn verhindern können, doch in der Verschmelzung von Ehre, Eros und Ruhm, entstand ein gewaltiges Motiv, ihn zu führen. Es trägt die Züge einer schönen Frau Hansgünther Heyme vertraut auf die fast 200 Jahre alte, geschliffen-leichte Übersetzung des Christoph Martin Wieland, und verlegt die Euripides radikal in ein Land zwischen „Dallas“ und Golfkrieg, Seifenoper und Tragödie. Der Chor: sieben Debütantinnen in Ballkleid und Lockenpracht kommentieren Helenas Klage über verpaßtes Leben und fremde Schuld mit Zwiespalt. Auch sie wollen Erfolg und Ordnung, und beides heißt allemal — Mann. In wunderbar präziser Körper- und Gesangschoreographie setzen sie Kontrapunkte, mal ergriffen von Trauer oder Gier, mal in ironischer Distanz. Die alternde Helena betrachten sie mit Abwehr gegen ihre Machtlosigkeit, sie begrüßen ihre Heimkehr und verleihen der kleinen Intrige den Abglanz von Würde, weil sie den geringen Spielraum von Mann und Frau im Spiel scheinbar größerer Mächte vorführen.

Die Inszenierung spielt mit den Namen von Göttern und Helden, und jeder weiß: Die Macht hat viele Namen, und Menschen haben sie ihr gegeben, um ihr eigenes Tun zu begründen. Die Posen des Menelaos, eines müden Kriegsheimkehrers im Regenmantel, sind hohl, aber für Helena müssen sie ausreichen, um jeden Preis und für den Rest des Lebens. Der Herrscher Ägyptens, Theoklymenos (Peter Kaghanovitch) im Seidenhemd und weißer Hose, verfügt allenfalls über die Verführungskraft eines reichen Dandy, und die Dame Helena ist dafür durchaus empfänglich, doch ihre Entlastung von mythischer Schuld liegt ihr, bei aller Koketterie mit deren Bedeutsamkeit, näher; die schönste der Frauen ist pragmatisch, und die Frau ohne Mann, die Schwester des Ägypters mit der Sehergabe, hilft ihr, eben deshalb.

Wenn Helena und Menelaos sich wiedererkennen und sofort beginnen, die Last der Geschichte kleiner zu machen und Schuld zuzudecken, dann ist das Bremer Theater nach mageren Jahren wieder auf der Höhe der Schauspielkunst, für die sein Name erstaunlicherweise noch immer steht. Margit Carstensen und Hans Schulze lassen den riesigen Abstand zwischen den beiden Menschen spürbar werden, gerade wenn sie sich einander nähern. Sie reichen sich die Hand zum Schwur, der die Flucht ins gemeinsame Leben besiegeln soll, und erstarren in schmerzhafter Klammergeste. Helena will der Macht des Eros abschwören, die sie selbst nicht erfuhr, und sie erkennt sie traurig an, indem sie die Banalität zum einzigen Ausweg macht. Sie belügt den Verehrer, um den Gatten zu retten, doch wir sehen, wie Menelaos dabei zum Gespött wird, und wissen, daß sie bei ihrer Flucht in die Ehe die Lüge im Gepäck trägt. In diesen Passagen gewinnt Euripides' altes Stück eine Leichtigkeit, als hätten Moliere und Marivaux mitgeschrieben. Geopfert wird in Heymes Inszenierung allenfalls die Dimension wirklicher Gewalt, und der „Dallas“-Spiegel reflektiert die Schrecken des Krieges nur höchst ungenau. Aber es herrscht ja Nachkriegszeit, und weil Heyme zeigt, wie verdrängt und vergessen, zugedeckt und zurechtgelogen wird, gelingt dem neuen Intendanten des Bremer Theaters gleich zum Auftakt und mit leichter Hand, was er versprach: die Verführung zur Nachdenklichkeit.

Euripides: „Helena“. Regie: Hansgünther Heyme. Mit Margit Carstensen, Hans Schulze u.a. Nächste Vorstellungen im Bremer Schauspielhaus: 7., 8., 9., 10., 11., 14., 16. und 18. Oktober.

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