: Verzweifelte Flucht an das andere Ufer
■ Zehntausende konnten sich rechtzeitig nach Kroatien retten
Bosanski Brod, Schwesterstadt des kroatischen Slavonski Brod, war ein Nadelöhr für Hunderttausende Bosnier, die seit Ausbruch des Krieges vor einem halben Jahr an dieser Stelle über die Save flüchteten. Hatten die Serben bereits im letzten Herbst während ihres Kroatienfeldzuges alle Brücken über die Save, die auf einer Länge von fast 300 Kilometer die Grenze zwischen Kroatien und Bosnien bildet, gesprengt, so blieb die schwere Stahlbrücke in den letzten Monaten einziger Fluchtweg für Hunderttausende Zivilisten. Spielten sich in der Vergangenheit immer wieder dramatische Szenen um diesen Brückenkopf ab — Kroatien machte die Grenze im Mai dicht, um zu seinen eigenen 600.000 Vertriebenen nicht noch weitere „unliebsame Gäste“ zu bekommen —, müssen sich gestern dramatische Szenen in Bosanski Brod abgespielt haben. Nach kroatischen Angaben soll in der Nacht auf Dienstag noch 26.000 Menschen die Flucht an das kroatische Save-Ufer gelungen sein.
Alle Einwohner der Industriestadt wurden gestern von den serbischen Verbänden über einen eiligst installierten „Befreiungssender Brod“ aufgefordert, sich aus ihren Verstecken hervorzuwagen und die Befreiung mit den „serbischen Helden“ zu feiern. Wie viele Zivilisten in diesen Tagen in Bosanski Brod Schutz suchten, gibt jedoch weder die serbische noch die kroatische Seite preis. Schätzungen schwanken jedoch zwischen 20.000 bis zu 100.000 verzweifelten Menschen, die sich in den Wäldern versteckt halten sollen. Der Grund: Die Stadt galt aufgrund ihrer Grenznähe zu Kroatien und aufgrund starker kroatischer Verteidigungsverbände als „sichere Insel“, in die Hunderttausende Nordbosnier aufbrachen. Vertriebene aus Bosanski Samac, Derventa, Bosanska Gradiska und Gracanica; aber auch aus dem heftig umkämpften Gradacac und der Großstadt Tuzla. Nach Rot- Kreuz-Angaben hat aber bisher nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge das Save-Ufer tatsächlich erreicht, ganze Trecks sollen noch in unwegsamen Bergregionen auf eine Gelegenheit warten, während der Kampfpausen nach Bosanski Brod aufzubrechen. Eine Reise, die nun niemand mehr antreten wird.
In den letzten Tagen mehren sich die Meldungen, daß verzweifelte Bosnier freiwillig serbische Gefangenenlager in Nordbosnien aufsuchten und sich gefangennehmen ließen, um so eine „warme“ Unterkunft und „geregelte“ Mahlzeiten zu bekommen. Selbst in das berüchtigte Lager Prijedor flohen Anfang der Woche 2.000 Muslimanen, um so, wie sie sagten, dem „sicheren Hungertod“ in den Bergen zu entgehen. Zur gleichen Zeit entließen die serbischen Lagerkommandanten 1.500 „Kriegsverbrecher“ aus Prijedor und schoben sie an die kroatische Grenze ab. Dort sitzen diese Männer nun in einer kroatischen Kaserne bei Karlovac — für zwei Wochen, wie das offizielle Zagreb der Weltöffentlichkeit mitteilen ließ. Sollte sich dann kein westliches Land dazu bereit erklären, die kranken und abgemagerten Männer aufzunehmen, werde man diese wieder zurückschicken, wo sie zuletzt „wohnten“: nach Prijedor.
Zagrebs Kurs gegen bosnische Flüchtlinge hat sich in der Tat in den letzten Wochen extrem verhärtet. In Kürze gilt für alle arbeitsfähigen Flüchtlinge ein allgemeiner „öffentlicher Arbeitsdienst“. Danach sollen alle Bosnier, die sich derzeit in Kroatien aufhalten, gegen ein minimales Entgelt von umgerechnet drei Mark pro Tag und eine warme Mahlzeit „die Spuren des Krieges beseitigen“ — so der stellvertretende kroatische Ministerpräsident Cargonja, nach dessen Plänen zerstörte Brücken, Eisenbahnlinien und die rund 100.000 zerbombten Häuser und Wohnungen in Kroatien wieder aufgebaut werden sollen. Doch nicht nur Flüchtlinge, auch das große Heer der eigenen Arbeitslosen könnte so „einer nützlichen Beschäftigung nachgehen“. Vorausgesetzt es kommt nicht zu neuen Kriegshandlungen in Kroatien selbst. Roland Hofwiler
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