Engholm und der diktierende Rechtsstaat

■ betr.: "Gucken, was das Volk bewegt", Interview mit Björn Engholm von Jürgen Gottschlich und Bascha Mika, taz vom 23.9.92

betr.: „Gucken, was das Volk bewegt“, Interview mit Björn Engholm von Jürgen Gottschlich und Bascha Mika, taz vom 23.9.92

Engholm denkt.

Engholm denkt nicht weiter, weil er vor der Aufkündigung des rechtsstaatlichen Parteienkonsenses zurückschreckt.

„Wer sagt, laßt die Finger vom Art. 16 GG, laßt möglichst viele von denen, die in großer Not in der Welt leben, zu uns kommen — ohne die materiellen Ressourcen aufzuzeigen —, ist eigentlich nicht glaubwürdig“, sagt er und dann: „Den (Zustrom) verändert man langfristig, indem man da investiert, wo die Menschen leben.“ So stellen sich's unsere glaubwürdigsten Politiker vor.

Wenn es sich so verhält, möchte ich gerne wissen, welchen Deckel Engholm auf den Topf setzt, der explodieren wird, wenn er fest genug hält? Kann eine Großmacht gleichzeitig heizen und den Dampf nicht ablassen wollen? Oder entzieht sich das Heizen dem politischen Handeln und muß deshalb das Deckeln politisch diktiert werden, weil „demokratischere“ oder menschenrechtsfreundlichere Methoden nicht greifen können?

Engholm sollte doch wissen, daß unsere „Entwicklungshilfe“ gescheitert ist, also genau das Investieren dort, wo Menschen ihre Flucht beginnen. Er sollte wissen, daß ihr „unkontrolliertes Einströmen“ in unser Land von dem noch weniger kontrollierbaren Ausströmen aus unserem Land verursacht wurde und wird: u.a. Waffen, Waffenteile, Waffenherstellungsmaschinen etc. Aber natürlich auch unser way of life, den sich halt die Neoeliten der ärmsten Länder zunutze machen. Und vor allem die brutale militärische Zerschlagung jeder Befreiungszuckung, die zur Selbständigkeit in den armen Ländern führen könnte.

Werden nicht die Opfer von morgen heute schon überall, auch bei uns, für ihr Elend verantwortlich gemacht?

Da nützt der Rückgriff in die Requisitenkiste der Geschichte wenig, ist aber doch nützlich: Hatten unsere GG-Väter andere als von Nazis verfolgte Deutsche vor Augen? Aber dürfen wir nach 50 Jahren imperialer Geschichten nicht anfangen, unseren eigenen Augen zu trauen. Schon, aber nicht als rechtsstaatliche Politiker, so scheint es; denn ich stelle mir ein Verbot aller legalen und illegalen Waffenexporte vor: Schreien dann nicht zuerst die Gewerkschaften, daß deutsche Familien wg. Arbeitsplatzverlustes ihre Familien nicht mehr ernähren können? Da hat's die Industrie selbst leichter: Wenn VW 6.000 Arbeiter entläßt, weil der Golf nicht absetzbar ist, kotzt der Markt selbst, nicht der Rechtsstaat.

Also entweder wird die Frage der Akzeptanz des Einwanderers unterfangen mit einer Gesetzgebung, die wenigstens versucht, Fluchtursachen, die wie Gift aus der BRD in alle Welt streuen, aufzuheben, oder alle Deckelungsgesetze sind für die Katz. Der Art. 16 ist der willkommene Notnagel rechtsstaatlicher Politik auf der Flucht vor dem gesetzesfreien Kapital, vor seiner Priorität vor der Politik. Solange Maßstäbe des Rechts — und sie zu setzen ist Staatsmonopol! — nicht für Entscheidungen des Internationalen Währungsfonds u.a. gelten, sind die Art. 1-20 des GG nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt werden.

Da kann Engholm lange „gucken, was das Volk bewegt“. Solange politische Eliten mit Waffen versorgt werden, gibt's eben keine Investitionen, wo Menschen leben. Pastor Hermann Bergengruen, Hannover