: „Alles mit Pril abwischen“
NRW-Umweltminister Matthiesen und seine Dioxin-Experten geben Entwarnung/ Erleichterung und Mißtrauen auf Bürgerversammlung ■ Aus Lengerich Walter Jakobs
„Wenn die Vögel wiederkommen, gehe auch ich zurück — sonst nicht.“ Horst Elfers, der am Mittwoch abend vor den Türen der zum Notquartier hergerichteten Dreifachsporthalle in Lengerich steht, traut den Entwarnungsmeldungen aus dem Rundfunk nicht. Sein Nachbar Manfred Schmidt, wie Elfers Haus- und Gartenbesitzer in unmittelbarer Nähe der Großbrandstelle, hält die Meldungen ebenfalls für Schönfärberei. „Mein sattgrüner Rasen ist von einem Tag auf den anderen gelb- braun geworden. Die Blätter hängen lasch von den Bäumen und sind ebenfalls verfärbt. Woher kommt denn das, wenn alles so ungefährlich war?“ Schmidt, der trotz verschlossener Fenster überall in seinem Haus auf einen Schmierfilm gestoßen ist, will jedenfalls weiter mit seiner Frau bei der Tochter schlafen.
Am späten Mittwoch abend drängen sie alle in die Sporthalle, weil sich Umweltminister Klaus Matthiesen (SPD) und seine Dioxinexperten angekündigt haben. Der PR-bewußte Matthiesen läßt zunächst anderen den Vortritt. „Sie können es schon meinem entspannten Gesicht ansehen, daß auf breiter Front Entwarnung gegeben werden kann“, sagt Stadtdirektor Thomas Striegler. Nachdem am Montag abend erste Meßergebnisse direkt aus der Rauchgaswolke mit fünf Nanogramm Toxizitätsäquivalent (TE) Dioxin pro Kubikmeter Luft Gefahr angezeigt hatten, reagieren viele Menschen in der Halle mit Beifall.
Zwischen 0,08 und 5,6 Nanogramm (ng) TE Dioxin pro Quadratmeter der verrußten Fläche hat Jochen Theisen von der „Gesellschaft für Arbeitsplatz- und Umweltanalytik“ aus Münster in der Windrichtung der Rauchfahne gemessen. Den höchsten Wert ermittelte Theisen auf der Motorhaube eines Bäckereiwagens, 600 Meter von den Brandtrümmern der Microplast Gmbh entfernt. Mit der Entfernung hätten die Werte abgenommen. 6.300 Meter von der Brandstelle sei die Fläche nur noch mit 0,08 ng TE Dioxin pro Quadratmeter belastet gewesen.
In unmittelbarer Nähe des Brandherdes — manche Häuser liegen nur 80 Meter davon entfernt — wurden bisher keine Außenproben genommen. Im Nahbereich habe er per Augenschein nirgendwo eine größere Verschmutzung als auf dem Auto wahrgenommen. Er erwartet deshalb auch dort keine wesentlich anderen Werte, will aber die Beprobung dort nachholen. Noch vor Auswertung der Bodenproben gibt sich Theisen sicher, daß die in den Boden eingedrungenen Dioxinwerte unter der Nachweisbarkeitsgrenze liegen werden. Theisen wörtlich: „Wir erwarten keine relevanten Dioxinkonzentrationen, denn die Mengen, um die es hier geht, kommen in einer Großstadt in ein bis zwei Monaten runter.“ Wer den Brand in Lengerich mit dem todbringenden Dioxin- Unfall in Seveso in Verbindung bringe, liege „total falsch“. „Lengerich hat mit Seveso nichts zu tun.“ Obwohl an dem Abend noch keinerlei Ergebnisse über die Luftbelastung in den Wohnhäusern selbst vorlagen, gab der Bochumer Mediziner und Dioxinexperte Prof. Fidelis Selenka den Bewohnern den Rat, in ihre Häuser zurückzukehren. „Wenn kein sichtbarer Belag zu erkennen ist, dann besteht keine Gefahr.“ Bei nur schwachen Verunreinigungen, so der Professor, der für Matthiesen schon die Gesundheitsuntersuchungen im Rahmen der Marsberger Kieselrotaffäre durchgeführt hatte, solle man sich Handschuhe anziehen und „die Oberflächen mit Prilwasser abwaschen...“ Aus reinen Vorsorgegründen sollten nur die Bewohner der stark verschmutzten Häuser jetzt noch nicht zurückgehen. Kinder dürfen in Lengerich ab Donnerstag wieder im Freien spielen — nur nicht auf den Spielplätzen. Zunächst sollen die Spielgeräte gereinigt und der Sand ausgetauscht werden...
Die schnelle Entwarnung ist nach Umweltminister Matthiesen, der schon mit bis zu 80.000 ng TE Dioxin pro Kilo Boden verseuchte Sportplätze wieder zum Bolzen freigegeben hat, nur deshalb möglich geworden, weil „wir alles mobilisiert haben, was wir an Meßkapazität hatten“. Die Entwarnung beruhe auf seriöser Arbeit und sei „kein Schnellschuß“. Viele in der Halle applaudieren — aber längst nicht alle. Ralf Elsner flucht. „Wenn ich in mein Haus zurückgehe, bekomme ich wieder Kopfschmerzen. Soll ich meine Familie in dem Dreck schlafen lassen. Nee, nicht mit mir.“ Und der skeptische Manfred Schmidt fühlt sich „verarscht“: „Wenn das alles so ungefährlich ist, warum stecken wir dann den übriggebliebenen Plastikmüll nicht einfach an? Ich träume offenbar, wenn ich mir meinen Garten ansehe...“
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