400 Mark für einen Warteplatz

■ Am Waterloo-Ufer herrschen für Flüchtlinge aus Jugoslawien immer noch untragbare Zustände/ Viele verbringen die ganze Nacht in Decken gewickelt vor den Toren/ Senat spricht von unbegründeter Panik

Berlin. Gegen 4.30 Uhr gestern morgen sinkt ein leiser Nieselregen, die klamme Kälte dringt langsam bis ins Mark. Vor der Außenstelle der Ausländerbehörde am Waterloo-Ufer drängen sich etwa 150 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugsolawien enger zusammen. Nicht alle finden unter der spärlichen Überdachung vor dem Gebäude Schutz. Andere übernachten auf notdürftigen Lagern aus Zeitungen, Pappe und Decken unter den spärlichen Bäumen auf der benachbarten Wiese.

»Heute nacht ist es nicht so schlimm«, sagt Luljeta D. Das blonde Mädchen mit dem blassen, übernächtigten Gesicht teilt sich mit einer Freundin eine Wolldecke. Sie habe in der letzten Woche schon eine wesentlich kältere Nacht hier verbracht. Vor einem knappen Monat ist sie aus Bosnien geflohen. Jetzt sitzt sie seit Donnerstag nachmittag 15 Uhr hier, um den ersehnten Stempel in ihren Paß zu erhalten, der ihr Aufenthaltsrecht, einen Heimplatz und Sozialhilfe garantiert.

Agron D. schüttet sich erst mal eine Flasche Wasser ins Gesicht. Er ist vor einem Monat aus dem Kosovo geflohen, weil er befürchtete, zur Armee eingezogen zu werden. »Ich hätte vielleicht auf meine eigenen Leute schießen müssen.« Während er in der Schlange steht, verbringen seine Frau und seine kleine Tochter die Nacht im Auto von Bekannten am Straßenrand.

Als eine Stunde später kurz jemand hinter der Glastür der Behörde erscheint, kommt es zu einem kleinen Tumult. Einige pfeifen und rufen, auf einmal stehen junge Männer vorne in der Schlange, die vorher mit Bierdosen auf den Geländern hockten. Nach wenigen Minuten ist alles wieder ruhig und dunkel hinter der Scheibe, das Durcheinander legt sich, nur die Reihenfolge der Wartenden hat sich zu Ungunsten nicht nur Ljuljetas verändert. Nach einem kurzen Streit bleibt das so, an langen Diskussionen hat niemand Interesse.

Im Vergleich zu den letzten Tagen ist die Situation jedoch nahezu als entspannt zu bezeichnen. Die Berliner Sonderdienststelle für die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien ist seit zwei Wochen von täglich über 600 Menschen belagert. Serben, Kroaten, Slowenen, Bosnier und Roma drängten sich vor den Türen und lagerten auf der benachbarten Wiese. Höchstens 300 können täglich von den 14 MitarbeiterInnen der Behörde versorgt werden. Eigentlich sollten die Ankömmlinge nach den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen an die Reihe kommen. Da aber kaum einer der Flüchtlinge deutsch versteht, brach dieses System in der letzten Woche zusammen, statt dessen wurden an die Wartenden Nummern ausgegeben. Die werden mittlerweile hoch gehandelt. »Ich habe selbst gesehen, wie ein junger Mann seine Marke für hundert Mark verkauft hat«, berichtet eine ältere Frau. Andere wissen von Preisen bis zu vierhundert Mark.

»Das ist der ganze Balkan hier«, sagt einer der Polizisten, die rund um die Uhr präsent sind, um die Glasscheiben vor dem Ansturm, die Flüchtlinge voreinander und vor befürchteten Übergriffen zu schützen. »Was sich da unten totschlägt, haßt sich auch hier.« Für ihn seien die häufigen Prügeleien nichts als gewöhnliche Kneipenrandale, widerspricht ein anderer. »Sie brauchen sich doch bloß die rumliegenden Wodkaflaschen anzusehen!« Bei den Temperaturen nachts sei das allerdings kein Wunder. »Das ist doch kein Zustand.«

Heute sind die Chancen gut, an die Reihe zu kommen. Selbst Tatic P., die sich erst gegen 2 Uhr angestellt hat, hat noch einen aussichtsreichen Platz. Auch sie ist nicht die erste Nacht hier und hat sich vorsorglich in eine Decke gewickelt und ein Klapphöckerchen mitgebracht. »Manche warten schon seit fünf Tagen«, weiß sie.

»Ich habe Glück, mein Nachname beginnt mit V, das ist selten. Fast alle jugoslawischen Namen beginnen mit A oder B«, sagt Snjezana. Sie ist heute zum ersten Mal gekommen, um ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Obwohl sie schon vor einem halben Jahr aus Kroatien geflohen ist, steigen ihr heute noch Tränen in die Augen, wenn sie daran denkt, was sie dort erlebt hat. »Meinen Onkel haben die Serben verbrannt, meinen kleinen Cousin getötet und in Stücke geschnitten.« Ihre Mutter und ihre Geschwister seien noch dort.

Ihre Nachbarin in der Schlange weiß dafür von halben Dörfern zu reden, die die Kroaten niedergebrannt hätten. Ihre serbische Freundin sei mit einem Kroaten verheiratet, der in kürzester Zeit 14 Mitglieder ihrer Familie umgebracht hätte. »Mischehen haben im Moment fast keine Chance mehr, entweder sie gehen, oder sie lassen sich scheiden«, sagt sie.

Von den AnwohnerInnen werden die Vorgänge am Waterloo- Ufer ignoriert oder mit Skepsis zur Kenntnis genommen. »Ringsum tobt das Leben, aber das Waterloo- Ufer ist einer der einsamsten Orte Berlins«, meint Patrick Herrmann vom Martin-Niemöller-Haus. Eine Gruppe aus dem Friedenszentrum versorgte gestern morgen um 5 Uhr die Wartenden mit Kaffee, Tee und Keksen. Der Umgang mit diesen Menschen sei des Landes Berlin unwürdig, so Herrmann. Es fehle offensichtlich sowohl an politischem Willen als auch an Phantasie, zumindest humanitäre Maßnahmen zu treffen. Vor dem Hintergrund der ausländerfeindlichen Geschehnisse müsse man diese Verhältnisse als unerträgliche Unsensibilität und Provokation der Behörden verstehen.

Pünktlich um 7.30 Uhr öffnen sich die Türen. Wieder geht es durcheinander, das Gedränge wird heftiger, und wieder stehen die weniger Aggressiven ein Stück weiter hinten. »Die ersten zehn!« heißt es, und mühsam werden die Türflügel zwischen den Hineindrängenden wieder zusammengedrückt. Gegen 11 Uhr haben es dann alle Wartenden geschafft. Zum ersten Mal seit zwei Wochen stehen nur noch vier Menschen am Waterloo-Ufer 5-7. Um wie der Innensenat Entwarnung zu geben, ist es aber zu früh. »Der Andrang in der letzten Woche war eine Welle, die durch die unbegründete Panik hervorgerufen wurde, die Aufenthaltsgenehmigungen würden ohne Stempel nicht über den 30. September hinaus verlängert«, sagt der Sprecher der Innenverwaltung, Bernd Krizcik. Gegenwärtig befinden sich nach dessen Angaben sieben- bis achttausend Flüchtlinge aus den Krisengebieten in Berlin, und täglich werden es mehr. Bei einer durchschnittlichen Bearbeitungskapazität von 300 Pässen pro Tag, oft sogar weniger, dürften sich die Vorgänge in der nächsten Woche wieder ähnlich abspielen. Mittlerweile kommt es auch bei der Asylstelle in Hohenschönhausen und bei der Behörde für die EG-BürgerInnen in der Invalidenstraße zu Staus. Corinna Raupach