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Des Widerspenstigen schleichende Zähmung

■ Dietrich Schulze-Marmeling: "Der gezähmte Fußball - Zur Geschichte eines subversiven Sports"

Manchmal schlägt man ein Buch auf und fragt sich am Ende einer durchlesenen Nacht, warum es das nicht schon vorher gegeben hat. Obwohl sich „Der gezähmte Fußball“ von Dietrich Schulze-Marmeling eher bescheiden „weder als Ersatz noch Konkurrenz zu bestehenden Fußballstandardwerken“ anbietet, schafft dieses Buch nämlichen einen Durchbruch. Es ist der erste ernsthafte Versuch einer Fußballgeschichte in Deutschland, die auch die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen des Spiels einbezieht und — das ist in diesem Fall sehr wichtig — aus seiner Fan-Perspektive kaum einen Hehl macht.

Endlich wird die Fußballgeschichte einmal nicht quälend ignorant als anekdotisch naturereignishafte Folge großer Mannschaften oder großer Spieler beschrieben. Der Autor hat die Vorlagen aufgenommen, die einige Fachwissenschaftler gegeben haben, wie etwa der Essener Historiker Siegfried Gehrmann mit seiner detaillierten Untersuchung zur Sportgeschichte im Ruhrgebiet 1900-1940, der Frankfurter Soziologe Norbert Seitz mit seiner halbernsten These von der „nahtlosen Übereinstimmung von Fußball und Politik 1954-1987“ oder jene Arbeiten aus dem Umfeld der Fußballforscher an der Universität in Leicester. Damit und mit üppigem Fachwissen gut versorgt, setzt Schulze-Marmeling zu einem langgezogenen Flankenlauf an — vom Spiel der Bauernlümmel bis zur Euro92.

Dabei macht er nicht den Versuch, die Geschichte lückenlos schreiben zu wollen, sondern setzt Schwerpunkte immer dort, wo wichtige Veränderungen einsetzten. So liefert er schlüssige Erklärungen dafür, „wie der Fußball zu den Arbeitern kam“, warum die Arbeitersportbewegung im Fußball so wenig Erfolg hatte oder warum sich der Professionalismus in Deutschland so spät durchsetzte. Ihn interessiert der Einfluß des Achtstundentages auf die Popularisierung des Spiels mehr als die Erfindung des WM-Systems. Sein Augenmerk richtet sich auf die Beeinflussungen, denen das Fußballmilieu ausgesetzt war.

Dabei spielen direkte politische Einflußnahmen — wie der Versuch, Schalke04 als Vorzeigemannschaft aus der Arbeiterschaft für das Naziregime zu instrumentalisieren — genauso eine Rolle wie die Bergbaukrise als Grund für den Niedergang traditioneller Bergmannsvereine im Ruhrgebiet oder die Einführung des Lizenzspielerstatuts für die Lebensperspektive eines nun Profifußballers.

Das alles ist nicht immer neu, aber der Antrieb, die Geschichte so aufzuschreiben, ist es schon. Schulze-Marmeling ist auf der Suche nach dem „guten Fußball“ und nutzt den historischen Verlauf, um die Krise des heutigen Fußballsports besser beschreiben zu können — und den daraus resultierenden Verlust seiner „subversiven Kraft“. „Obwohl er in vielerlei Hinsicht ein bürgerliches Spiel war, stand der Fußball noch bis vor gar nicht langer Zeit doch ein Stückchen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft: halb war er integrierte Spielwiese, halb autonome Nische. Das galt sowohl für das Geschehen auf dem Rasen wie auf den Rängen.“

Die vor allem im letzten Jahrzehnt galoppierende Kommerzialisierung hat nicht nur die Kluft zwischen armen und reichen Vereinen ständig vergrößert, sondern auch das Verhältnis der Vereine zu den Zuschauern in die Schräglage geraten lassen. Die Folgen zeigen sich auch auf dem Spielfeld. „Vergeblich sucht man nach dem atemberaubenden Spielwitz unsterblicher Kicker-Genies; statt dessen dominiert der phantasielose, dafür aber oft brutale und allein am Erfolgsprinzip orientierte Angestelltenfußball.“ Der einst unverbrüchliche Pakt zwischen Spielern und Publikum ist inzwischen so weit aufgelöst, daß ein Eric Cantona sogar behaupten kann: „Wir haben keine Verpflichtung gegenüber dem Publikum.“

Aus Mäzenen sind Sponsoren geworden, „die weniger aus echter Leidenschaft, Verbundenheit oder sozial-patriarchalischem Bewußtsein“ handeln, „als aus wohlkalkulierten kommerziellen Erwägungen“. Die heutige Weltfußballordnung stellt sich für den Autor vor allem als „Aufbruch zu neuen Märkten“ dar. Das Unbehagen an solchen Entwicklungen ist bei Fans, Spielern, Journalisten und sogar Funktionären vage präsent und äußert sich etwa in der großen Sympathie, auf die der EM-Sieg der Dänen auch in Deutschland stieß oder der Popularität solcher Klubs wie Borussia Dortmund oder Schalke04, die proletarische Nähe noch immer spüren lassen. Das Verdienst von „Der gezähmte Fußball“ ist es, solch unpräzises Geraune auf den Punkt zu bringen und die Geschichte der Entfremdung des Spiels nachzuzeichnen, das der Autor sehr treffend vom „kraftmeierischen Bumm-Bumm-Tennis als neuer deutscher Leitsportart“ absetzt.

Im zweiten Teil des Buches sind Beiträge „Zur Krise des modernen Profifußballs“ (auch von anderen Autoren) versammelt. Bei Themen wie dem Stadionumbau von Stehplätzen zu Sitzplätzen, der gewerkschaftlichen Organisation von Profis oder dem Dauerthema „Fußball und Gewalt“ geht es um zukunftsweisende Entscheidungen. Drei Themen, die sonst leider selten so grundsätzlich diskutiert werden wie hier.

„Der gezähmte Fußball“ liefert einen brillanten Steilpaß aus defensiver Sprachlosigkeit und vagem Mittelfeldgeraune. Es ist nicht nur eine gute Sozialgeschichte des Fußballsports, sondern auch eine Aufforderung, den Fußball nicht den Mayer-Vorfelders, Hunkes, Hoeneß und anderen Totengräbern des Spiels zu überlassen. Der Autor selbst scheint aber schon aufgegeben zu haben. Er bekennt, sich inzwischen hauptsächlich der „Exklusivität“ seines „Local team“ in der Bezirksklasse zugewandt zu haben. Christoph Biermann

Dietrich Schulze-Marmeling: Der gezähmte Fußball — Zur Geschichte eines subversiven Sports; Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1992; 336 Seiten, DM 32,00; ISBN 3-923478-68-2

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