■ Ökolumne: Zivilcourage Von Klaus M. Meyer-Abich
Fest an der Hand hält die Mutter ihr Kind, damit es nur ja nicht durch einen „falschen Schritt“ vom schmalen Bürgersteig auf die breite Straße gerät und überfahren wird. Es muß lernen, daß unsere Städte von Todesstreifen durchzogen sind, auf die man nicht geraten darf. Voller Vertrauen, daß die Erwachsenen die Welt auch damit richtig eingerichtet haben, lernt es seine Lektion, das Näschen nur wenige Handbreit über den Auspuffrohren der Autos. Wenn beide später in ihrem eigenen Auto heimkehren, werden auch sie wieder auf der sichereren Seite sein.
Wieso aber gibt es hier „falsche Schritte“? Ist es ein falscher Schritt, wenn das Kind vor ein Auto auf die Straße tritt, oder ist es falsch, daß das Auto dort fahren und das Kind in seinem Leben wie in seiner körperlichen Unversehrtheit gefährden darf, obwohl das entsprechende Grundrecht schwerlich so gemeint ist? Wer hat sich nach wem zu richten, die Menschen nach den Autos oder die Autos nach den Menschen?
Siebzehn Augsburger Elternpaare haben sich dafür entschieden, daß nicht die Schritte ihrer Kinder falsch sind, sondern die Straße, auf die sie keinen „falschen Schritt“ tun dürfen. Seit dem Schulbeginn vor einigen Wochen weigern sie sich, die Kinder in die erste Klasse der benachbarten Grundschule zu schicken, weil sie eine vielbefahrene vierspurige Straße überqueren müßten, um in die Schule zu kommen. Die Mütter unterrichten ihre Kleinen derweil im nahen Pfarrsaal selbst. Das Schulamt besteht demgegenüber darauf, daß derartige Fisimatenten in der allgemeinen Schulpflicht nicht vorgesehen seien und verhängte gegen die Eltern ein Bußgeld von je einhundertvierzig Mark. Werden sie dadurch nicht zur Raison gebracht, droht ihnen sogar ein tägliches Zwangsgeld in dreistelliger Höhe, erklärte der Sprecher des Schulamtes.
Die Eltern aber wollen nicht nachgeben. Wenn der Staat das Stadtviertel durch die Straße so in zwei Teile teilt, daß man nur unter Lebensgefahr von dem einen in den anderen kommt, dann möge er eben auch so viele Schulen bauen, wie unter diesen Umständen gebraucht werden. Mit einer Ampel oder mit einer Fußgängerbrücke wollen die Eltern sich nicht zufrieden geben. Für eine zusätzliche Schule aber meint wiederum der bayerische Kultusminister kein Geld zu haben.
Warum solidarisiert der Kultusminister sich nicht mit den Eltern und verlangt von seinem Kollegen Verkehrsminister die entsprechenden Folgekosten des Straßenbaus? Haben die Eltern etwa nicht recht? Falsch war es allenfalls, daß sie sich nicht eher gerührt haben. Die meisten von ihnen haben wohl selber Autos und befahren damit auch die betreffende Straße oder ähnliche Straßen durch andere Stadtviertel.
Ich finde, die Eltern haben vollkommen recht. Genauso recht wie diejenigen, die in der Hamburger Stresemannstraße den Verkehr blockiert haben, als wieder einmal ein Kind überfahren worden war. In einer verrückten Welt sind die Verrückten normal, und unsittliche Zumutungen werden nicht dadurch besser, daß das Schulamt oder die Polizei sie bekräftigt. Seien wir den Kindern dankbar, wenn sie die Erwachsenen zur Zivilcourage bringen, die sich der Raison des hierzulande Normalen entgegenstellt. Ich meine aber, die Eltern sind ihren Kindern noch mehr schuldig, als vom Staat eine neue Schule zu fordern. Der Fehler ist nicht nur, daß Kinder unter Lebensgefahr zur Schule geschickt werden können. Der Fehler ist unser motorisierter Individualverkehr überhaupt.
In den letzten Jahrzehnten sind hierzulande Jahr für Jahr durchschnittlich etwa zehntausend Menschen durch Autos zu Tode gebracht worden. Je etwa eine halbe Million Verletzte kommen hinzu. Und dabei macht es einen Unterschied, ob Autofahrer sich gegenseitig totfahren oder ob es Dritte sind: Kinder und alte Leute, Fußgänger und Radfahrer, die zu Tode kommen. Es gehört zum Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, daß jedermann und jedefrau für sich selber Risiken eingehen dürfen, zum Beispiel skifahren, bergsteigen, segeln, schwertschlucken etc. Wer sich in ein Auto setzt, geht ein Risiko ein. Wenn zwei Autos zusammenstoßen, geschieht das, worauf ihre Fahrer von vorneherein gefaßt sein mußten. Was aber ist davon zu halten, wenn einer dabei auch noch unbeteiligte Dritte gefährdet?
Ein Drittel der Verkehrstoten hierzulande sind Dritte, Unbeteiligte am motorisierten Individualverkehr. In geschlossenen Ortschaften sind es sogar zwei Drittel. Sie werden sozusagen durch die freie Entfaltung der Persönlichkeit ihrer autofahrenden Mitbürger getötet. So aber wird das Grundrecht wohl nicht gemeint sein. Der motorisierte Individualverkehr ist die größte und bestorganisierte Verletzung unserer Verfassung, die es je gegeben hat. Wir sind es auch den Kindern schuldig, in Augsburg und überall, aber auch der Integrität unserer Gesellschaft und damit letztlich uns selber, uns diesem System zu verweigern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen