"Ein Leben als Stoff für Legenden"

■ Nach langer Krankheit starb Willy Brandt

„Ein Leben als Stoff für Legenden“

Es gibt Tage, die vergißt man nicht. Einer davon ist der 27.April 1972: jener Tag, an dem für Willy gezittert wurde, an dem auch ich die Daumen drückte und den ganzen Vormittag ein Transistorradio am Ohr hatte. Den meisten meiner damaligen Freunde ging es genauso — obgleich das ganz und gar nicht selbstverständlich war. Gerade mal 18 Jahre alt, hatten wir von Autoritäten die Schnauze gestrichen voll, und Brandt war ja immerhin Kanzler der Republik. Außerdem war er Vorsitzender der Partei, die das Ruhrgebiet — in dem wir groß geworden waren — bereits länger regierte, als wir denken konnten, und zwar genauso borniert wie unsere Väter ihre Familien. Trotzdem hofften wir inständig, Willy möge Kanzler bleiben, war unser Jubel nach Verkündung der Abstimmungsergebnisse groß, und wir hatten das unbestimmte Gefühl, vor Schlimmem bewahrt worden zu sein.

Warum? Die Frage ist auf einer im engen Sinne politischen Ebene nicht zu beantworten. Der Hintergrund der Auseinandersetzung — der Streit um die Ostverträge — war für uns zu weit weg, als daß es sich um ein Engagement in der Sache gehandelt hätte. Es ging um die Person, die faszinierte, nicht um den Machterhalt der SPD, sondern um die Figur Willy Brandt. Auch ohne entsprechendes demoskopisches Material zu kennen, glaube ich, daß die Politologen recht haben, die Brandt attestieren, er hätte damals die Jugend für sich mobilisiert und zu SPD-Wählern gemacht. Warum? Der Mann hatte einfach das, was wir am eigenen Vater immer vermißten. Die Bereitschaft zuzuhören, andere Argumente ernst zu nehmen und manchmal so etwas wie ein augenzwinkerndes Verständnis für Meinungen, bei denen andere schon nach der Polizei riefen. Heinrich Böll hat dieses Gefühl einmal auf den Punkt gebracht mit der Bemerkung, „in Brandts Lebenslauf liegt Stoff für eine Legende. Der unehelich Geborene, der Sozialist, der Emigrant konnte Kanzler werden, und war damit der erste, der aus der Herrenvolk-Tradition herausführte.“

Sicher, auch wir wurden, wie die zehn Jahre ältere APO-Generation bereits bei der Bildung der Großen Koalition, schnell genug schwersten Irritationen ausgesetzt. Schließlich verhängt ein guter Vater gegen seine Kinder keine Berufsverbote, und auch die Prügel der Polizei wurde von Demo zu Demo schlimmer. Daß aus dem Staat, mit dem Brandt bei seinem Regierungsantritt 1969 „mehr Demokratie“ wagen wollte, in den 70er Jahren mehr und mehr ein Polizeistaat zu werden drohte, hat er zumindestens nicht verhindert — und doch bleibt er in der Rückschau die Ausnahmeerscheinung der bundesrepublikanischen Politik. Bewahrt vor dem allmählichen Abstieg ins Mittelmaß hat ihn wahrscheinlich sein frühzeitig erzwungener Rücktritt.

So paradox es scheinen mag, den Ruf der Integrität verdankt Brandt letztlich denjenigen, die ihn rechtzeitig gestürzt haben — angefangen von der Stasi bis zum damaligen Verfassungsschutzchef Nollau und auch wohl Herbert Wehner. Denn was kam nach seinem Rücktritt als Kanzler im Mai 1974 auf die Bundesrepublik zu. Das Wiederaufbau- und Wohlstandswachstumsmodell geriet in eine Durstphase, die Verteilungskämpfe wurden härter. Doch nicht nur im ökonomischen Bereich wurden die Auseinandersetzungen härter — ob es Brandt anders als Schmidt gelungen wäre, den Attentaten der RAF mit Gelassenheit statt staatlicher Aufrüstung und Hysterie zu begegnen und damit die Demokratie weniger in Gefahr zu bringen, als die Regierung Schmidt dies tat, ist sehr fraglich. Ohne sich über die Folgen wirklich klar zu sein, hatte Brandt sich als Kanzler die Berufsverbotspolitik aufschwatzen lassen, wurden in seiner Amtszeit die grundlegenden Weichenstellungen der sogenannten Anti-Terror-Politik bereits vollzogen.

Nach allem, was Freunde und Feinde über ihn berichten, waren ihm die Details der Innenpolitik eher Last als Lust. Sein früherer Parteigenosse Jochen Steffen schrieb anläßlich Brandts Rücktritt vom Parteivorsitz in der taz: „Auf dem weiten Feld der Innenpolitik interessierte ihn eigentlich nichts. Sie zählte nur insoweit, als sie geeignet schien, Stimmen, Mehrheiten und Macht zu bringen. Macht für die Außenpolitik. Ihr galt sein wirkliches Interesse.“

So wie Brandts Lebensweg sprechen auch die fünf Jahre seiner Kanzlerschaft dafür, daß Steffen recht hat. Einen wesentlichen Teil seiner politischen Sozialisation verbrachte er auf der Flucht vor den Nazis in Skandinavien. Seine Karriere begann er nicht in irgendeinem Unterbezirk der Partei als hoffnungsvoller Kommunalpolitiker, sondern im Widerstand gegen den faschistischen Griff auf Europa. Und auch als Regierender Bürgermeister von Berlin war die außenpolitische Dimension in der von der Anti-Hitler-Koalition besetzten Stadt, die bereits kurz nach Kriegsende zur Frontstadt und weltbewegendem Symbol des Kalten Krieges wurde, wichtiger als die Kommunalpolitik im Wedding, wo Brandt bis zuletzt seinen Parteibeitrag bezahlte. Bereits in Berlin wurde in den Jahren nach dem Mauerbau die spätere Ostpolitik vorgedacht.

Brandt selbst gibt auch an, der Eintritt der SPD in die große Koalition 1966 sei vorwiegend außenpolitisch motiviert gewesen. Adenauers Westpolitik, die er offenbar schon zu Zeiten, als seine Partei noch dagegen war, für richtig hielt, sei abgeschlossen gewesen, die CDU aber unfähig, nun den fälligen Schritt in Richtung Osten zu tun. Daß die SPD und er dadurch eine ganze Generation der linken Intelligenz verloren, war ihm offenbar nicht so wichtig. Er sei, sagte er 1986 in einem taz-Interview, „den Motiven der Kritiker nicht nachgegangen, da die Sozialdemokratie andere, historisch betrachtet wohl auch wichtigere Aufgaben hatte“. Gemeint war wiederum die neue Ostpolitik.

In Brandts eigenen Darstellungen schimmert immer wieder durch, daß er — auch auf dem Höhepunkt seiner exekutiven Macht — dem Primat einer Aussöhnung mit dem Osten alle innenpolitischen Erwägungen unterordnete. Tatsächlich hat er es ja geschafft, eine sonst eherne Regel der Politik aus den Angeln zu heben. Zugeständnisse an außenpolitische Gegner, an den Feind also, können immer nur rechte, nie linke Regierungen machen. Daß Brandt dennoch eine Aussöhnung mit Polen und der UdSSR zustande brachte, hatte seinen innenpolitischen Preis. Um dem Vorwurf des „Ausverkaufs des Vaterlandes“ an die Kommunisten kontern zu können, wurde innenpolitisch ein harter Kurs gegen Links gefahren. Die SPD trug die Notstandsgesetze mit, und der Parteivorsitzende Brandt brachte es nicht fertig, den Demonstranten, die sich auf der Straße für ihren Protest gegen den amerikanischen Vietnamkrieg blutige Köpfe holten, auch nur Verständnis zu signalisieren. Als sein Freund Olof Palme — bereits als Regierungschef — schon Anti- Vietnamkriegs-Demonstrationen anführte, behauptete Brandt immer noch, in Vietnam werde die Freiheit Westberlins verteidigt. Für die Absicherung seiner Ostpolitik, so rechtfertigt er sich später, brauchte er die Unterstützung Washingtons. Auch die von der sozial- liberalen Koalition dann 1970 durchgesetzte Amnestie für alle Verfahren im Zusammenhang mit den „68er-Demonstrationen“ trug vielleicht dazu bei, der sich bildenden Roten Armee Fraktion das Wasser abzugraben, eine tatsächliche innenpolitische Trendwende war es nicht. Statt tatsächlich „mehr Demokratie“ zu wagen, kamen kurz darauf die Berufsverbote. Wiederum hauptsächlich außenpolitisch motiviert: nur im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Ost-Verträge sei die Einführung der Regelanfrage beim Verfassungsschutz zu verstehen, schreibt er in seinen Erinnerungen. Möglichst keine Blöße gegenüber der CDU.

Doch der Mann, der zu den Fernsehbildern der mit Napalm bombardierten, brennenden vietnamesischen Kindern schweigt, kniet bald darauf in Warschau vor dem Gedenkmal des Warschauer Gettos. Brandt leistet als Kanzler Abbitte für die Verbrechen der Faschisten — im Namen der Deutschen, wiewohl er selbst zu den Opfern des deutschen Faschismus gehört. Zweifellos war der Beginn der Aussöhnung mit dem Osten das historische Verdienst Willy Brandts, das bis heute nachwirkt. Ohne die Ostverträge und die darauf folgende Entspannung zwischen Bonn und Moskau hätte sich kein sowjetisches Politbüro so verhalten, wie es das dann 1989/90 getan hat — auch Gorbatschow nicht. Kohls Kaukasus-Trip war nur auf diesem Fundament denkbar. Dafür hat er als erster sozialdemokratischer Kanzler nach dem Faschismus das innenpolitische Projekt von mehr Demokratie wagen beerdigt und die Chance — die er aufgrund seiner Biographie gehabt hätte —, die kritische Intelligenz mit der Bonner Republik zu versöhnen, verspielt. Auch bei Brandt waren Politik und Moral eben nicht immer kongruent.

Schon 1971 bekam Willy Brandt für seine Ostpolitik den Friedensnobelpreis. Nachdem er aus dem Kanzleramt wieder ganz in die Baracke umgezogen war (seit 1964 als Parteivorsitzender), brachte er dieses Pfund in die internationale Arena ein. Knapp zwei Jahre nach seinem Rücktritt wählte ihn die Sozialistische Internationale zu ihrem Präsidenten, 1977 — in der BRD war der „Krieg“ zwischen RAF und Bundeskriminalamt auf dem Höhepunkt — nahm Brandt den Vorsitz der von der Weltbank angeregten Kommission für Internationale Entwicklungsfragen an.

Daß Brandt seinem Nachfolger im Kanzleramt, Helmut Schmidt, die innenpolitische Bühne weitgehend überließ, konnte nicht überraschen. Doch wo war Brandt, als Helmut Schmidt die angebliche amerikanische Raketenlücke entdeckte und damit die SPD in die schwerste Zerreißprobe seit dem Streit um das Godesberger Programm trieb? Warum ließ Brandt, der sich rühmte, gegen seinen, des Vorsitzenden Willen, hätte Schmidt keine zwei Wochen Kanzler sein können, die SPD in die Schmidtsche Bedrohungslücke laufen — ein Konflikt der letztlich zum Verlust der Macht führte? Es scheint, daß Brandt sich in dieser Zeit bereits viel mehr mit den globalen Problemen zwischen arm und reich als den Niederungen deutscher Politik beschäftigte. Der Bericht seiner „Brandt-Kommission für Entwicklungsfragen“ machte Furore, änderte aber an den terms of trade erstmal nichts. Trotzdem wurde Brandt zum bekanntesten und wohl auch geachtetsten deutschen Politiker weltweit. Als solcher hätte er mit mehr oder weniger Ruhe seinen Lebensabend genießen können — wenn er es geschafft hätte, von sich aus den Parteivorsitz rechtzeitig abzugeben und wenn nicht noch der Fall der Mauer ihn erneut auf die politische Bühne gelockt hätte.

War Schmidts Verlust der Kanzlerschaft noch das Ergebnis eines schweren Konflikts in einer existentiellen Frage, so wiederholte sich die Geschichte bei Brandt als pure Farce. Der Mann, der die SPD fast 25 Jahre geführt hatte, schmiß letztlich hin, weil ihm seine Partei bei der Berufung einer Sprecherin die Gefolgschaft verweigerte. Soviel an Ressentiment, wie ihm aus seiner Partei entgegenschlug, als er mit Margarita Mathiopoulos nicht nur eine Frau, sondern auch noch eine Ausländerin berufen wollte, war Brandt nicht mehr bereit zu ertragen. Verbittert verkündete er seinen Rücktritt, nur mühsam ließ er sich noch dazu überreden, den Ehrenvorsitz zu übernehmen. Laut verkündete der alte Herr, wie angenehm es doch sei, nicht mehr so viele Sitzungen absolvieren zu müssen. Intern ging Brandt mit seiner Partei schärfer ins Gericht. In einer Rede vor dem Parteivorstand, mit der er im März 1987 seinen Rücktritt begründete, sagte er: „Bei der Diskussion um die in Aussicht genommene neue Sprecherin hat mich besonders gestört, was ich als einen Aufstand von Spießertum empfunden habe.“

Zurück auf die Bühne kam Brandt erst wieder im November 1989. Zusammen mit Weizsäcker wurde er zum Stichwortgeber der Wiedervereinigung. Entlang der Parole „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört“, verdarb es sich Brandt zum zweiten Mal mit einem großen Teil der bundesdeutschen Linken. Nach seiner Zustimmung zu der Berufsverbotspraxis, die gerade der bewußtseinsmäßigen Verjährung anheimfiel, erlebte die Linke den Internationalisten Brandt als glühenden Verfechter der deutschen Einheit, einen Mann, der vor kaum einem patriotischen Pathos zurückschreckte. Mitgerissen von seiner eigenen Rhetorik und getragen vom Jubel in Ostdeutschland, wo er als einer der Väter der Nation gefeiert wurde, nahm er selbst die Demontage des eigenen Kanzlerkandidaten Lafontaine in Kauf, der bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen auch prompt haushoch verlor. Hätte er dem Drängen einiger Parteifreunde nachgegeben und wäre tatsächlich selbst noch einmal angetreten, die SPD hätte vielleicht eine Chance gegen Kohl gehabt.

Ob Willy Brandt auch nach zwei Jahren Einheit immer noch glaubte, daß da zusammenwächst, was zusammengehört, wissen wir nicht. Er war seit Monaten so krank, daß er sich öffentlich nicht mehr dazu äußern konnte. Es ist gemeinhin eine Floskel, zu schreiben, das Land verliere einen bedeutenden Politiker. Auf Brandt trifft sie zudem nicht zu. Brandt war mehr als ein bedeutender Politiker. Er war vielmehr der letzte Politiker in diesem Land, an dessen Person sich politische Phantasien bildeten, der Menschen emotional bewegte — eine Legende eben. Jürgen Gottschlich