: Der Massenmord wird fortgesetzt
■ In Bosnien hält die serbische Offensive trotz des Flugverbots der UNO an
Berlin (taz) — Durch Terror und Krieg in Bosnien sind wahrscheinlich schon mehr als 140.000 Menschen getötet worden. Die meisten dieser Opfer gehören der muslimanischen Bevölkerungsmehrheit an. 150.000 Muslimanen seien darüber hinaus in serbischen Lagern interniert, erklärte der islamische Religionsführer in Bosnien, Reis-ul-Ulema Selimowski. In diesem „Krieg der serbischen Orthodoxie gegen den Islam“ versuche die serbische Seite, die Moslems „endgültig auszurotten“. Auch die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ in Göttingen schätzt nach Auswertung von Berichten vor Ort die Zahl der Toten ähnlich hoch ein. Nur ein kleiner Teil der Opfer sei direkt im Krieg umgekommen. Die große Mehrheit sei in Internierungs- und Konzentrationslagern, an Entkräftung und Krankheiten während der Vertreibung, durch Massaker nach Besetzung der Ortschaften durch serbische Truppen oder während der Deportation in geschlossenen Güterzügen gestorben. In einer Presseerklärung kritisiert die Gesellschaft die Untätigkeit der internationalen Organisationen, denn die Existenz von Internierungs- und Konzentrationslagern sei der US-Regierung und den Vereinten Nationen seit Mai beziehungsweise Juni bekannt. Weiterhin werde in den Medien die Zahl der Opfer heruntergespielt. Der „planmäßige Völkermord“ gegenüber der muslimanischen Bevölkerung dürfe nicht hingenommen werden. Die Zahl der Opfer, so schätzen Quellen der Vereinten Nationen ein, werde angesichts des kommenden Winters noch dramatisch steigen. Wegen des Mangels an Lebensmitteln und Brennmaterial sind Hunderttausende von Menschen in akuter Lebensgefahr.
Trotz dieser dramatischen Situation scheinen die internationalen Organisationen nicht bereit, den bedrängten Menschen zu Hilfe zu kommen. Die UNO konnte sich nicht einmal durchringen, das vom Weltsicherheitsrat ausgesprochene Flugverbot für die jugo-serbische Luftwaffe durchzusetzen. Am Wochenende kam es zu wiederholten Luftangriffen an den Fronten in den nördlichen Regionen Bosniens. Wegen dieser fortgesetzten Angriffe der jugoslawischen Luftwaffe hat die bosnische Regierung am Sonntag scharf bei der UNO und der internationalen Jugoslawien-Konferenz protestiert.
„Wir haben die ständigen Resolutionen satt, aus denen nur weitere Kassetten- und Napalmbomben regnen“, hieß es in einem Appell der Verteidiger der unter schweren serbischen Angriffen liegenden nordbosnischen Stadt Brcko. In dem in Zagreb aufgefangenen Funkspruch forderten sie die Aufhebung des Waffenembargos, um das „serbische Ungeheuer“ vernichten zu können. Die Verluste der schweren Luftangriffe vom Samstag wurden mit mindestens 11 Toten und 32 Verwundeten angegeben. Gestern drohte das Kommando der kroatisch-moslemischen Truppen, daß sie — wenn die Serben ihre Offensive nicht stoppten — mehrere Eisenbahnzüge mit hochgiftigem Chlor in die Luft sprengen würden.
Am Sonntag versuchten serbische Truppen, den am Vortag durch bosnisch- kroatische Truppen unterbrochenen Landkorridor durch die Tiefebene der Save wieder zu öffnen. Unterdessen stießen sie weiter gegen die Umgebung der Städte Gradacac, Maglaj und Doboj vor. Bei Gradacac wurde nach Angaben des bosnischen Rundfunks eine von Artillerie und Panzern unterstützte serbische Offensive abgewehrt. In Serbien waren gestern 6,9 Millionen Wähler in einer Volksabstimmung aufgerufen, die Verfassung zu ändern, um Neuwahlen zu ermöglichen. Erich Rathfelder
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