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Schwache Muskeln, starker Verstand

Matthias Vernaldi ist Theologe, Dichter, Wahrsager, anarchistischer Querkopf — und Rollstuhlfahrer/ Er brach schon in der DDR aus dem Behindertenghetto aus und erkämpfte sich Autonomie  ■ Von Freya Klier

Wenn Matthias Vernaldi in Berlin ist, verabreden wir uns. Ich stell' dann meine Pfanne auf den Herd und klingle, wenn es acht ist, meine männlichen Nachbarn heraus: Die wuchten den Rollstuhl mitsamt dem Zentner, der mein Freund ist, zu mir hinauf in den ersten Stock.

Meist ist es Sommer, wenn Matthias in Berlin ist, fünf Wochen lang findet man ihn dann auf dem Mittelalterlichen Spektakel, der vom Lustgarten inzwischen auf den Potsdamer Platz umgezogen ist. Dort, zwischen Rostbrätl- Bude, halbnackten Schmieden und kreuzgeschnürten Miedern übt Dr. Matthäus Vernaldius seine Künste aus, das Kartenlegen. Besser gesagt — das Kartendeuten. Unter einem winzigen Zeltdach, vor dem sich im Dunkeln erstaunliche Schlangen bilden (im Hellen geniert sich der Gast aus Ost und West, die Winkelzüge seines Lebens aus Tarot-Karten herausfiltern zu lassen). Wenn es also dunkel ist, baut sich der geduldig Harrende seine Pyramide selbst, aus Stäben und Schwertern, Kelchen und Scheiben. Dr. Matthäus Vernaldinus krümmt keinen Finger.

Daß seine Hände nicht greifen, seine Füße nicht gehen, sein Körper keine bedeutungsschwangere Wendung vollführen kann — wen stört es. Seine Deutungen faszinieren. Seine Lebensklugheit und Beobachtungsgabe lassen die „Gesunden“ zuhauf- und wiederkommen.

Die Muskeln sind das einzige, was Matthias zu schwinden scheint

Dieser überdimensionale Kopf über einem Häuflein schlaffer Glieder ist einer der klügsten, die ich kenne. Fast scheint es, als habe der Herrgott das Menschenkind falsch gemischt: keine Kraft für Arme und Beine, dafür eine geballte Ladung an Verstand und Witz. Ein Rückgrat, das wie ein verzogener Bügel zwischen den Schultern hängt und doch von einer Stärke ist, wie sie die meisten meiner deutschen Artgenossen schmerzlich vermissen lassen.

Matthias leidet unter Muskelschwund, doch sind die Muskeln das einzige, was ihm zu schwinden scheint. Gezeichnet von Geburt an, hat er seinen früh veranschlagten Tod bereits mehrfach überlebt. Er ist Theologe, Dichter, Wahrsager, anarchistischer Querkopf und Maschas Geliebter.

Behinderte hatten schlechte Karten in der DDR. Doch mischten sie mit, vermochten auch sie, manch tristes Blatt zu wenden. Matthias' Kindheit, in der er von seinen Eltern im Kinder- und Leiterwagen durch sein Thüringer Dorf kutschiert wird, endet schon 1966 mit dem Schulbeginn: Er wird ins ferne Gotha verfrachtet und dort in einem staatlichen Heim im Walde weggeschlossen. Zusammen mit Dutzenden anderer nicht körpertüchtiger Kinder schläft er die nächsten sechs Jahre in einem riesigen Tanzsaal, ein Schlachtengemälde von fünfzehn Metern Länge und drei Metern Breite vor Augen. Ein Horror in Öl, der in die Träume kriecht, ein Wirrwarr von Armen und Schwertern, Helmen und Pferden, geplatztem Gedärm und sprudelndem Blut. (In der vorherigen Diktatur war das Gemäuer Erholungsheim für NS-Offiziere, von deren Kunst hat sich offenbar das neue Personal nicht trennen können.)

Einmal staatliches Eigentum, wird jede Anfrage von Eltern als Einmischung begriffen. Eine strikte Arbeitsteilung herrscht hier hinter den Mauern: Für niedere Dienste wie Anziehen, Waschen und Klogang sind Schwestern zuständig, die Sozialistische Erziehung liegt in der Hand von Pädagogen. Die rufen, muß ein Kind im Unterricht pinkeln, vorwurfsvoll nach der Schwester.

So wirkt der Wechsel ins nächste Heim wie ein Akt der Befreiung, es geht nun nach Arnstadt ins Marienstift. Hier gibt es Ausgang und einen ideologischen Freiraum (weswegen der Staat Jahre später auch hier die Körperbehinderten übernimmt, der Diakonie bleiben nur noch die Geisteskranken).

Vernaldi schließt die 10. Klasse mit Diplom ab, doch das Abitur fällt aus: In Arnstadt winken die Lehrer der Penne ab — den Schülern sei es nicht zuzumuten, täglich einen Rollstuhl die Treppe hinauf- und wieder hinunterzuschleppen. In eines der drei Spezialgymnasien für Behinderte aber mag Vernaldi nicht gehen — weder in die Isolation des Thüringer Grenzgebietes noch ins Klinikum Buch, noch nach Birkenwerder, wo Jugendliche, die sich nicht anziehen können, mit dem Bett ins Klassenzimmer gerollt werden.

Verzicht aufs Abitur also und vorübergehende Rückkehr ins Elternhaus. Von dort aus nimmt er ein Fernstudium für Theologie auf, von dort aus verfolgt er auch jenen Plan, den er mit Freunden in Arnstadt ausgetüftelt hat — die erste selbstverwaltete Wohngemeinschaft für Behinderte. Im Staate der deutschen Ordnung und Unterordnung ein doppeltes Tabu. Und er wird fündig: Ein alter Gasthof steht leer, in einem Dorf bei Leipzig. Ebenerdig, der Kaufpreis nur 5.000 Mark, ein ideales Plätzchen also. Doch ideal findet der dörfliche Gemeinderat die Bewerber nicht: Ein halbes Dutzend junger Männer? Behindert oder nicht — hier kann es sich nur um Schwule handeln, und Schwule will man nicht. Erst recht nicht mit langen Haaren und so ...

Die Kirche springt ein und öffnet einen alten Pfarrhof in Hartroda, einem 50-Seelen-Dorf in der Nähe von Gera. 1978 ist es soweit, in Hartroda ziehen sieben junge Männer ein: fünf Behinderte, ein junger Pfleger aus Arnstadt, ein kerngesunder WG-Fan. Rasch erlangt Hartroda Berühmtheit in der Behindertenszene der DDR. Mit Hilfe von Freunden, die zum Materialpreis arbeiten, und Ingenieuren, die kostenlos projektieren, wird das Gehöft in Schwung gebracht. Von seiten der Kirche steht den Wagemutigen Oberkirchenrat Johannes zur Seite. Johannes, so schwört Vernaldi, habe wirklich geholfen. Eine leise Irritation schwingt in der Stimme — Bruder Johannes ist inzwischen als IM entlarvt.

Das Argusauge der Sicherheit schielt also auch an der Behinderten-WG nicht vorbei, und Grund dafür gibt es genug: Punks tummeln sich auf dem Gehöft und anderes arbeitsscheues Gelichter — wohl kaum, um nur behinderte Ärsche abzuwischen. Bei Vernaldi selbst kann man sich auf die Zensur der Kirche verlassen — dem jungen Prediger, der inzwischen tapfer den zähen Brei Altgriechisch und Hebräisch gelöffelt hat, wird das zweite Examen verwehrt. Ein Pfarrer im Rollstuhl? Gott bewahre, das untersagt schon das Kirchenrecht.

Doch die Kreatur predigt bereits im Kirchlein von Hartroda — libertinistisches Zeug, nach welchem dem Volke die Ohren jucken. Predigtverbot! Es ereilt Vernaldi 1986 — einem Jahr, in dem wir die „Solidarische Kirche“ gründen und einander in Berlin zum ersten Mal begegnen.

Einen Vorteil hat das kirchliche Aus: Der Renegat beginnt nun, heftiger zu schreiben. Über Diktat zunächst, dann per Computer. Schreibt Gedichte, Erzählungen, Essays. Und ein Hörspiel, das am Geraer Theater bis zur ersten Probe heranreift. Aber eben nur bis zur ersten: Dann kappt die SED den „Sputnik“, zwei Tage darauf läßt der Chefdramaturg das Behindertenmachwerk eilfertig in der Schublade verschwinden.

Gereist ist der inzwischen fast völlig Gelähmte stets mit einem wollüstigen Drang nach Beweglichkeit. Mit siebzehn brechen er und seine Freunde das erste Mal auf: Vier Krüppel erobern die Hauptstadt, zwei davon im Rollstuhl. Einander unbekümmert über den Alex schiebend, avisieren sie das Hotel „Stadt Berlin“, in das hinein ein roter Teppich lockt und ein Spalier gewichtiger Portiersmienen. Daß die Aufmerksamkeit nicht ihnen gilt, bemerken sie erst, als man sie vom Teppich zerrt, der sich unter den Rollstühlen bereits häßlich verzieht: Vernaldi & Co. sind in eine RGW-Tagung geplatzt.

Kein Grund zum Aufgeben: Im nächsten Hotel bestehen sie darauf, die Batterien ihrer Rollstühle aufladen zu müssen. Man verfrachtet sie in einen Kellergang, in dem die Lungenentzündung um die Ecken pfeift. Ins mollige Foyer zeiht es sie — das wiederum will das Hotelpersonal nicht verschandelt wissen. Der Kompromiß: Das Behinderten-Quartett wird in die Garderobe geschoben. Dort sitzt es unter Mänteln und Taschen, bis sich die Garderobehaken allmählich leeren. Dann, nach Mitternacht, erbarmt sich die Rezeption und gibt ein Zweibettzimmer frei.

Eine erste, demütigende Erfahrung, die Vernaldis Reiselust nicht zu bremsen vermag. Immer wieder verläßt er Hartroda, vollgestopft mit Kohletabletten, um unterwegs dem Horror des Stuhlgangs zu entgehen. Er fährt in den Westen, geschmuggelte Scheine im Reifen, und rollt auf dem Rückweg mit verbotenem Schriftgut an. Prinzipiell läßt er sich vom DDR-Zoll über die Grenze schieben: Den kleinen, schiefen Körper abzutasten, vermag sich selbst der hartgesottenste Genosse nicht zu überwinden.

Wenn Matthias mich besucht, verliert sich jedes Nebenbei, jede achtlose Selbstverständlichkeit. Kürzlich meldete sich zum Beispiel sein Darm, es entstand eine robuste Aktion im Haus: Die Wand des Rollstuhls mußte abgeschraubt, Matthias wie ein Bündel zu zweit angehoben, von Mascha getragen und auf eine exakt vorausberechnete Stelle gesetzt werden. Beim Anziehen wieder durfte der Schwanz nicht klemmen, die Unterhose keine einzige Falte ziehen.

Was mich sorgt, ein hilflos falscher Griff vielleicht gilt in Hartroda als Alltagsroutine. Hier hat die Zeit an der Gründer-WG genagt: Die einen wurden irgendwann gemeinschaftsmüde, die anderen liegen begraben unter Friedhofsulmen. Nur noch Matthias ist von den einstigen Pionieren da, der dystrophe Methusalem von Hartroda. Längst ist die WG neu gemischt — Lahme und Muskelstrotzende, Frauen und Kinder, Männer und Tiere. Und immer wieder die Bude voller Besuch.

Von der WG in Hartroda nach Ägypten

Für Matthias der ideale Ort: Gäbe es Hartroda nicht, müßte er ein Schwerstbehinderten-Dasein im Heim fristen. Oder in einer Zweierbeziehung, als Schicksalsverkettung von Riesenbaby und Rundumschwester — eine Aussicht, die schon im vorhinein jede Leidenschaft sterben läßt. Hartroda bedeutet Gemeinschaft und Autonomie zugleich, bedeutet Schreiben und Landschaft, Verschwinden und Heimkehr, und Leben mit Mascha. Ein lockeres Chaos eben statt der antiseptischen Symbiose von Krankheit & krank machender Selbstaufgabe.

Mit den vierzig Seelen rundum — Menschen, die ihre dünne Rente verzehren, ihrer Arbeit nachtrauern oder tags dankbar in irgendeine Produktionsstätte fahren — steht Vernaldi sich gut. 1990 haben sie ihn in den Gemeinderat gewählt, haben ihm mehr Stimmen gegeben als Bauernpartei, PDS und Feuerwehr. Und weniger als dem Sportverein, der genießt noch immer das meiste Vertrauen (etablierte Parteien haben hier nur magere Chancen, Politik wird wie eh und je in der Turnhalle gemacht). In der Gemeinde also, die fünf Enklaven umfaßt und zäh um ihre dörfliche Unabhängigkeit ringt, kümmert er sich um Naturschutz, den Erhalt der Dorfstruktur und das Überleben des Kindergartens. Wenn er nicht gerade unterwegs ist.

Noch einmal suche ich den Freund auf, die Aussteiger in der Rollheimer Wagenburg haben ihm den Werkstattwagen als Domizil überlassen. Es ist Spätvormittag und über die Schmuddelecke am Potsdamer Platz scheppert Hardcore, streunen die Hunde. Da mittendrin liegt Matthias — zwischen Katze, Beutelsuppen, Hobelbank ... Liegt auf dem Rücken wie Käfer Samson. Keine Kopfwendung ist möglich, kein Fingerheben zum Gruß. Unter den bunten Haarsträhnen empfängt mich ein Lächeln. Im Winter will er nach Ägypten, mit Mascha und Freunden. Wenn das Geld reicht.

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