: Pawlow und die Irrwische
Fußball-Länderspiel Deutschland – Mexiko 1:1 (0:0)/ Mexikos Coach Cesar Luis Menotti wandelt auf den Spuren Old Shatterhands ■ Aus Dresden Matti Lieske
Es ist kaum anzunehmen, daß Cesar Luis Menotti während seines Aufenthalts in Dresden die Straßenbahnfahrt nach Radebeul in Angriff genommen hat, um dort in der „Villa Shatterhand“ und der „Villa Bärenfett“ auf den Spuren Karl Mays zu wandeln. Vermutlich kennt der argentinische Trainer der mexikanischen Nationalmannschaft den großen sächsischen Fabulierer nicht einmal. Dennoch stellte Menotti sein Team ganz im Geiste Karl Mays ein, dem eine abgefeimte List stets lieber war als rohe Gewalt oder kühner, unüberlegter Aktionismus. Wäre der Schöpfer des fintenreichen Winnetou hundert Jahre später geboren, hätte er sich wahrscheinlich unter die 27.000 im Dresdner Rudolf- Harbig-Stadion gemischt und seine Freude gehabt an Menottis Abseitsfalle, in die Mexiko immer wieder die deutschen Stürmer tapsen ließ.
Seit langem weiß die Fußballwelt, daß die begeistertsten Abseitsläufer des Erdballs im deutschen Nationalteam versammelt sind. Kaum hat ein Mittelfeldspieler den Ball, rennen die Stürmer los wie Pawlowsche Hunde mit Raketenantrieb, eine Art germanische Urhorde, durch nichts aufzuhalten, es sei denn, der Himmel fällt ihnen auf den Kopf oder der Schiedsrichter pfeift, ein lediglich gradueller Unterschied. Vierzehnmal sausten Völler, Riedle und Konsorten in der ersten Halbzeit ins Abseits, es ist Bundestrainer Berti Vogts jedoch hoch anzurechnen, daß es ihm in der Pause gelang, den Vorwärtsdrang seiner Angreifer einigermaßen zu zügeln. Das hat vor ihm noch keiner geschafft. Lediglich viermal gingen sie in der zweiten Halbzeit der mexikanischen Viererkette auf den Leim, Pawlows Hunde würden Bauklötze staunen.
Jede Abseitsfalle bringt den Nachteil mit sich, daß es hochbrenzlig wird, wenn sie mißlingt — selbst, wenn man einen Torwartlibero wie Jorge Campos in seinen Reihen hat. Rudi Völlers 44. und letztes Länderspieltor (58.), mit dem er sich in seinem Abschiedsspiel von Uwe Seeler (43) absetzte und auf den dritten Platz der ewigen Torschützenliste hinter Gerd Müller (68), Achim Streich (55) und Karlheinz Rummenigge (45) vorrückte, entstand aus einem solchen Mißgriff. Bei Effenbergs Paß blieb die Fahne unten, Völler spielte Campos geschickt aus und hob den Ball über die töricht ausgestreckte Hand des Verteidigers Ramirez, nach neuem Regelwerk eigentlich ein Platzverweis, ins Tor.
Gemeinhin spielt man eine Abseitsfalle dadurch aus, daß sich die Stürmer mit der Abwehrkette zurückbewegen, während von hinten die Verteidiger nach vorne stürmen und auf den Paß in die entvölkerte gegnerische Hälfte lauern. Dies gelang Knut Reinhardt und Heiko Scholz vor allem in der zweiten Halbzeit einige Male, doch die daraus resultierenden Chancen wurden von Effenberg, Völler, Klinsmann und Kirsten vergeben.
Gleichzeitig nahmen die Probleme in der Abwehr zu. „Wie kleine Irrwische“ würden sich die Mexikaner um den Ball versammeln und ihn sich kurz zuspielen, hatte Vogts zuvor gewarnt, und genau das taten die Gäste aus Mittelamerika. Helmer und Reinhardt begingen einige schwere Patzer, und auch Rekonvaleszent Matthäus, der meist damit beschäftigt war, hinten die Löcher zu stopfen, während sich Effenberg vorn profilierte, ließ mächtig nach. Allein Thon, bester Mann im Team, und Buchwald, der Kicker von der traurigen Gestalt, blieben souverän. Das Unheil nahm in der 72. Minute seinen Lauf, als Matthäus eine Flanke unterlief und der hinter ihm stehende Carlos Hermosillo den Ball mit der Brust stoppte. Matthäus kam noch einmal dran, schoß die Lederkugel aber so unglücklich an den Kopf Hermosillos, daß sie ins Tor prallte. Als Klinsmann, allein vor Campos, eine weitere Riesenchance verpaßte, war das 1:1 besiegelt.
Cesar Luis Menotti war zufrieden, obwohl für ihn doch eigentlich all jene, die vorwiegend die Zerstörung des gegnerischen Spiels im Kopf haben, nichts als „Verräter“ sind. Ein Mittel wie die Abseitsfalle, die das Match zu einer Freistoßsammlung degradiert, müßte ihm zutiefst widerstreben. Folgerichtig stritt er in Dresden glatt ab, überhaupt auf abseits gespielt zu haben. „Wir haben lediglich Druck ausgeübt, und wenn die Gegner dann in verbotene Räume laufen, sind sie selber schuld“, meinte er treuherzig. Rudi Völler sah die Sache wesentlich realistischer. „Zum Glück spiele ich nicht jede Woche gegen eine solch perfekte Abseitsfalle. Sonst hätte ich wahrscheinlich schon viel früher aufgehört.“
Mexiko: Campos - Ambriz, Suarez, Munoz, De Dios Ramirez, - Uribe, Espinosa (78. Ordiales), De la Torre (63. Gutierrez), Espana, Coyote (74. Alberto Garcia) - Luis Garcia (63. Hermosillo)
Zuschauer: 27.000; Tore: 1:0 Völler (58.), 1:1 Alves (72.)
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