■ Die Gewalttaten richten sich gegen bereitgestellte Sündenböcke
: „Er ist Frankfurter“

Eigentlich hätte ich doch Experte für/gegen täglichen Rassismus sein müssen. Ich unterrichte seit über zehn Jahren an einer Frankfurter Schule, an der die nicht-deutschen Schüler in der Mehrzahl sind, und habe ein Buch ausländischer Jugendlicher, die in Deutschland leben, verlegt („Wir leben hier!“).

Trotzdem gibt es in mir eine Spaltung zwischen historisch-politischer Wahrnehmung, tagespolitischer Notwendigkeit (Verlagsinitiative gegen Rassismus) und den täglichen Vor-Ort-Erfahrungen mit Jugendlichen und Rassismus.

Erinnerungen an den Alltag in der Schule. 1. Gidey aus Eritrea kam in der fünften Klasse zu uns. Nach einigen Tagen war sie das heulende Elend, keiner würde sie mögen. Dabei war sie das kaffeebraune (rassistisch? Aber wahr!) Darling der ganzen Klasse. 2. Im siebten Schuljahr auf Klassenfahrt zum Skifahren konnte ich die Aufenthaltsgenehmigungen in den Pässen der türkischen Schüler sehen. Behördliche Diskriminierung in Wortwahl und Sinn: Dem Inhaber dieses Passes ist es verboten... nicht gestattet... Für die Schüler nur Alltäglichkeit. 3. Dann im achten Schuljahr eine Austauschfahrt nach London. Besorgnis in einer pakistanischen Familie: Was wird dort mit unserem Aloysius geschehen? Es passierte nichts, erinnerte aber an eine frühere Fahrt, als die Londoner Schüler unseren (damals) jugoslawischen Starkicker nach einem Spiel als „Nazideutschen“ beschimpften. 4. Freundschaften: Die ostdeutsche Sandra fährt mit der sizialianischen Giusi auf die Insel in die Ferien, die deutschen Bühlers nehmen die chilenische Claudia mit auf Reisen, die portugiesischen Bentos finden sich mit dem sehr deutschen Oliver als zukünftigem Schwiegersohn ab und stellen ihn froh der heimatlichen Verwandtschaft vor. Die eritreische Gabi kümmert sich um die deutsche Andrea, und Heiko ist der beste Kumpel von Metin, ohne genau den Unterschied zwischen Kurden und Türken zu begreifen.

Aber auch: Das Englischbuch für das fünfte Schuljahr beginnt mit „I am Yasemin. I am from Turkey.“ Was, weil Hans und Helga bei uns aus Rumänien und Polen kommen, Yasemin jedoch aus dem Städtischen Krankenhaus Frankfurt/Hoechst, meist nicht stimmt, aber trotzdem johlende Begeisterung beim Wort „Turkey“ produziert. Und als ich in meiner so herzlich- freundlichen Klasse nach der letzten Frankfurter Kommunalwahl vorschlug, wir Nichtdeutschen sollten mal nach Schulschluß unter uns bleiben, waren alle Nichtdeutschen dafür und blieben. Was kam raus? Angst. Angst, nicht vor den, aber vor der Wiederholung deutscher Geschichte, vor einer Realität, wie sie sie vom Fernseher her kennen.

Wieso gibt es bei uns in der Schule keinen offensichtlichen Fremdenhaß? Ganz sicher liegt es — bei all unseren ehrenwerten Bemühungen — nicht an der aufklärerischen Arbeit der LehrerInnen, würde dies doch implizieren, daß es an anderen Schulen daran mangelt. Realität in Frankfurt/Griesheim ist die persönliche Nähe und die fehlende zahlenmäßige Dominanz der „Deutschen“. Dies führt nicht nur dazu, daß die Rassisten sich nicht trauen, offensichtlich spielen persönliche Beziehungen eine große Rolle. Beispiel Christian: Aus bester deutscher Familie stammend, ist er ehrgeizig und neigt zu Jähzorn und schneller Schuldzuweisung an andere; Christian fühlt sich immer ungerecht behandelt und verweist darauf, daß andere bei gleichen Handlungen anders behandelt worden wären. In anderer Umgebung wäre er vielleicht Mitläufer der Schläger und Brandstifter geworden. Oder nicht? Auf jeden Fall ist er in der Klasse bestens befreundet mit Bahadir (türkisch), Semere (eritreisch) und Mehmet (ebenfalls türkisch).

„Wir leben hier!“ verschaffte Erfahrungen auf erweiterter Ebene. Natürlich enthält diese Sammlung die erwarteten und notwendigen Texte über die Diskriminierung junger AusländerInnen in Deutschland, aber viele schrieben auch über die inneren Spannungen und ihre Enttäuschung, daß die Generation der Eltern sich weniger geändert habe als Gleichaltrige in der Türkei beispielsweise. Mir wurde klar, daß bei allem täglichen Zusammensein mit jungen Nichtdeutschen meine Informationen über die sozialen Bedingungen in den Herkunftsländern sehr gering sind. Und als wir letzte Woche in Rostock mit LehrerInnen und jungen AutorInnen zusammensaßen, meinte eine Lehrerin zu den jungen Türkinnen, wie mutig es sei (der Familie gegenüber), kein Kopftuch zu tragen, um sich sagen lassen zu müssen, daß dies in der Türkei relativ normal wäre und die Bereitschaft deutscher Behörden, Mädchen aus religiösen Gründen zu erlauben, nicht am Schwimmunterricht teilzunehmen, in der Türkei nicht geteilt wird. Dort müßten alle mitschwimmen.

Noch eine kleine Episode: Der vorhin erwähnte jugoslawische Superkicker tritt jetzt bei Eintracht Frankfurt gegen den Ball. Ein Reporter fragte mich, als ich mich aufs Trainingsgelände verirrt hatte und von meinem alten Schüler als ehemaliger Lehrer vorgestellt wurde, ob der Slobi nun Serbe oder Kroate sei. „Er ist Frankfurter“, antwortete ich und hoffte, daß auch Slobi mit dieser Antwort einverstanden sei.

Klingt das nicht alles zu episodenhaft angesichts erschlagener Menschen und brennender Häuser? Wenn Mord und Flammen tatsächlich etwas mit dem Verhältnis junger Menschen (deutscher und nichtdeutscher) untereinander zu tun hätten, würde ich anderes zu schreiben haben. Aber die Gewalttaten der Frustrierten und Verblendeten richten sich nicht gegen Ausländer an sich, sondern gegen bereitgestellte Sündenböcke, wären es nicht die „Asylanten“, hätten die Stoibers, Schäubles, Seiters und Seites gegen Lesben und Schwule, Juden oder Kommunisten gehetzt. Denn: Asyl wird zum Medien- und Thekenthema Nr.1 gemacht, damit nicht mehr von Wohnungsnot, Jugendarbeitslosigkeit und anderen sozialen Problemen geredet werden muß. Abraham Teuter