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Mütter in der Fremde

■ Eine Schule, die sich den Eltern öffnet, verändert den Stadtteil/ Mütter ausländischer Kinder verlieren ihre Unsicherheit und Isolation

Der erste Schultag in der Türkei: die Fahne wird gehißt, und die Kinder stehen in Reih und Glied. Niemand rührt sich, bis die Hymne beendet ist: „Ich bin Türke, aufrichtig und fleißig“, rezitieren die Kinder: dann gehen sie Klasse für Klasse in das Gebäude, der Lehrer voran. Ich spüre den Kloß in der Kehle und schlucke an meinen Tränen. Da geht sie nun, meine Tochter. Stolz, im neuen Schulkittel, den Tornister auf dem Rücken, geht sie ein Stück von mir weg. Von nun an wird dieser Fremde, ihr Lehrer, sie ein Stück mit beeinflussen. Was wird sie hier in diesem Gebäude lernen — und: will ich das?

Jahre später kommen vor einem deutschen Schultor die Erinnerungen an jenen Tag in der Türkei: Kinder eilen die Schulmauer entlang. Braune Haare, blonde Haare, schwarze Haare. Den Tornister auf den Rücken geschnallt, an der Hand ihrer Mütter oder vorneweg laufend. Vor der Schultür der schnelle Abschied, ein Kuß, eine letzte Ermahnung: „Mach's gut!“ — „Sei schön artig!“ — „Yaramazlik yapma!“ — „Paß schön auf!“ — „Derslere dikkat et!“ — „Tschüs!“ — „Güle güle!“ Dann sind sie verabschiedet, die Mütter, ob deutsch oder türkisch oder tunesisch. Bis hierher und nicht weiter.

Bis hierher verbindet uns Mütter etwas: unsere Hoffnungen, unsere Sorgen, unsere Ängste sind die gleichen; auch der Wunsch, daß es unseren Kindern in der Schule gutgehen möge. Und nun? Ist es das Stück Stoff auf dem Kopf einiger Mütter, das einen Gruß und ein Lächeln verhindert?

Ausländische bleiben nicht nur einheimischen Müttern häufig fremd, sondern oft genug auch der Schule. Als Verschlossenheit wird ausgelegt, was unter Umständen nur Unsicherheit bedeutet. Filiz lebt seit zehn Jahren in Deutschland und hat zwei Kinder in der Schule. „Warum habe ich nur solche Angst?“ fragt sie. „Ich gehe mit gesenktem Kopf an den deutschen Müttern aus der Klasse meiner Tochter vorbei und hoffe, daß mich niemand anspricht. Ich schäme mich, und ich habe Angst. Die müssen mich ja für bekloppt halten, aber ich weiß nicht, wie ich mich ändern soll. Wir haben in der Türkei nicht gelernt, so frei zu sein.“

Allzu leicht überträgt sich die Unsicherheit der Mütter auf die Kinder. Gül hat zwei Söhne. Der Älteste macht zur Zeit eine Ausbildung. „Bei ihm war ich besonders ängstlich“, erzählt sie. „Er sollte nicht mit Deutschen spielen. Die hatten meiner Meinung nach kein Benehmen, waren mir zu frei, zu vorlaut, zu fremd. Als er größer wurde, hatte er Umgang mit türkischen Jugendlichen, die aber auch keinen guten Einfluß auf ihn hatten.

Bei meinem Jüngsten war es mir dann egal, mit wem er sich anfreundet. Ich habe zu ihm gesagt: „Du kannst auf beiden Seiten Gutes und Schlechtes finden.“ Er hat heute viele Freunde. Er ist frei und viel sicherer im Auftreten als der Große. Weil ich Angst hatte, ist er auch ängstlich.“

Eine Schule, die sich den Eltern öffnet und ihnen Mut macht, kann nicht nur die eigene Arbeit langfristig erleichtern. An der Grundschule Marschallstraße in Gelsenkirchen zum Beispiel begegnen sich außer den Kindern auch die Eltern und lernen dazu. Die Folgen dieser Arbeit reichen inzwischen über die Schule hinaus. Sibel lebt seit fünfzehn Jahren hier. Sie freut sich, daß inzwischen ihr Sohn regelmäßig von seinem deutschen Schulfreund abgeholt wird. Ihrer Meinung nach hat sich in den letzten Jahren die Atmosphäre im Stadtteil positiv verändert. „Unsere Schule ist sehr gut“, erzählt sie. „Unsere Kinder machen hier alles gemeinsam. Und als türkische Mutter bekommst du genauso dein Recht wie die Deutschen.

Hier gibt es viele Kurse für türkische Frauen. In diesen Kursen haben die Frauen ihre Augen geöffnet. Die Deutschen sehen ja, wie fleißig unsere Frauen in die Schule kommen, alle Schulfeiern mitorganisieren und an Versammlungen teilnehmen. Auf der Straße und im Geschäft werde ich jetzt von vielen Deutschen begrüßt.“

Manchesmal stellt sich dann heraus, daß die betroffenen Eltern einander keineswegs so fremd sind, wie sie vermutet haben. Einmal schneite ein deutscher Vater zufällig in den Alphabetisierungskurs, der an der Schule für türkische Frauen angeboten wird. Er war ganz überrascht vom Mut der Frauen. Ehrlich gesagt, habe er auch nie so recht Lesen und Schreiben gelernt, erzählte er dann, und sich vieles erst gemeinsam mit seinem Sohn angeeignet, als der einmal eingeschult war. Aber den Mut, so in aller Öffentlichkeit und dazu stolz einen Kurs zu besuchen, den hätte er nie aufbringen können. Von Gisela Haciabdurrahmanoglu

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