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„Es handelt sich um einen Leichnam“

■ Interview mit Dr. Johannes Scheele, verantwortlicher Oberarzt an der Uni-Klinik Erlangen-Nürnberg, über den „Behandlungsversuch mit unsicherem Ausgang“

taz: Es gibt zwei Formen von Gehirntod. Welche der beiden Fälle trifft auf die Mutter zu?

Johannes Scheele: Bei der werdenden Mutter liegt ein Ganzhirntod vor, das heißt alles, was an Hirnsubstanz vorhanden ist, ist definitiv zerstört. Ein solcher Zustand läßt sich nicht beliebig lange fortsetzen, das heißt: Es ist die Frage, wie lange man die jetzige Situation stabil halten kann. Im Augenblick müssen wir sehr wenig tun, um sie stabil zu halten. Aber es kann durchaus sein, daß in Zukunft wesentlich eingreifendere Maßnahmen wie Medikamente notwendig werden.

Ist für Sie die Mutter eine Lebende oder eine Tote?

Die Mutter ist eine Tote. Es handelt sich um einen Leichnam, das ist auch die Ansicht der Gerichtsmedizin und des Standesamtes. Denn für diese Frau ist der Totenschein bereits am vergangenen Donnerstag ausgefüllt worden. Es geht nicht mehr um die Frage, ob man hier jemanden würdevoll sterben läßt, sondern es geht um die Frage, ob man einen Leichnam mit der erforderlichen Pietät behandelt.

Haben Sie keine Bedenken, diesen Embryo in einem Leichnam weiter wachsen zu lassen?

Die Frage hat sich für uns umgekehrt gestellt. Wir hatten eine Frau, die als Teilhirntote eingeliefert worden ist, aber zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hat. Es haben sich dann sehr stabile Zustände eingestellt, vom Kreislauf, bis zur Urinausscheidung und der Herzfrequenz, und während der stabilen Phase ist plötzlich der Hirntod festgestellt worden. Für uns hat sich die Frage gestellt, können wir die Behandlung bewußt und aktiv abbrechen, mit der Konsequenz, daß dann der Embryo stirbt? Das war die Entscheidung, die wir treffen mußten. Nicht, beginnen wir etwas, um dieses Kind ans Leben zu bringen, sondern brechen wir etwas ab, mit der Konsequenz, daß es sterben würde.

Was bedeutet es medizinisch für den Embryo, in einer Toten zu liegen?

Von den wenigen Fallberichten, die wir vorliegen haben, kann man sagen, wenn ein solches Kind zur Welt kam, war es in der Regel körperlich gesund und hat sich auch normal weiterentwickelt. Natürlich gibt es auch psychische Wechselwirkungen, zwischen Embryonen und ihren Müttern. Wir wissen sehr genau Bescheid, welche Auswirkungen das wachsende Baby auf die Psyche der Mutter hat, aber wir wissen sehr, sehr wenig darüber, wie der umgekehrte Weg funktioniert. Man weiß zumindest, daß einige Geräusche wie der Herzschlag der Mutter oder Geräusche im Bauch der Mutter für das Kind von Bedeutung sind. Aber diese Dinge sind auch in unserem Fall noch vorhanden. Das Herz schlägt, der Darm macht Geräusche, und man kann auch von außen — unsere Schwestern haben schon damit begonnen — Gespräche an dieses Baby heranbringen. Sie machen Musik außenrum, sie versuchen die Mutter zu bewegen und Gymnastik zu machen, so daß das Kind in dieser Hinsicht möglichst normal aufwachsen wird. Eine andere Frage ist, inwieweit es zu einer psychischen Zuwendung kommen. Das wird vielleicht eine Aufgabe unserer Schwestern und der werdenden Großmutter sein, die in diesem Fall die Funktion der Mutter übernehmen muß. Und zwar noch vor der Geburt.

Wie soll das gehen?

Ich bin nicht sicher, ob der Embryo spürt, welche Hand den Bauch streichelt.

Es entsteht der Eindruck, daß Sie sich mit diesem Experiment profilieren wollen.

Erstens ist es aus unserer Sicht kein Experiment. Experiment heißt Schaffung von Versuchsbedingungen und Beobachtungen, was jetzt passiert. Wir haben ja nichts geschafffen, ein Unfall hat eine Situation geschaffen. Und wir stehen vor der Frage, ob wir einen Behandlungsversuch machen. Einen Behandlungsversuch mit sicherlich unsicherem Ausgang, aber mit Chancen, die viele andere Behandlungsversuche vielleicht auch haben könnten.

Und was meine persönliche Profilierung damit angeht: Ich bin ein Chirurg, der sich im wesentlichen mit Leberchirurgie oder mit Tumorchirurgie beschäftigt, ganz sicherlich nicht mit der Frage der Behandlung eines werdenden Kindes im Mutterleib. Ich glaube, das liegt so weit außerhalb meines Tätigkeitsspektrums, daß ich damit keine Profilierung erreichen kann.

Sie sagten, es gibt schon Fälle, auf die sie zurückgreifen können.

Es gibt vergleichbare Fälle aus den Vereinigten Staaten, auch aus Finnland. Und es gibt auch in Deutschland bereits einen vergleichbaren Fall. Und der Vater, der das Kind erzieht, hat mich angerufen und hat mir mitgeteilt, es ist ein sehr ausgeglichenes, sehr fröhliches Kind. Und das macht mich optimistisch, daß die psychischen Belastungen, denen dieser Embryo ausgesetzt sein mag, letztlich nicht unbedingt zu einer Schädigung führen müssen. Interview: Dorothee Winden

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