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Fast jeder zweite gibt auf

■ Angehende Ingenieure an der Hamburger Fachhochschule scheitern oft im Studium / Unklare Ursachen: Mangelnde Lehrbefähigung der Professoren oder steigende berufliche Anforderungen?

an der Hamburger Fachhochschule scheitern oft im Studium / Unklare

Ursachen: Mangelnde Lehrbefähigung der Professoren oder steigende berufliche Anforderungen?

Manche Dozenten haben ihren ganz eigenen Humor. „It's really a shame!“ steht neben einer Liste mit Matrikelnummern am Schwarzen Brett. Denn der Professor liefert neben den Prüfungsergebnissen auch gleich noch die Durchfallquote: 27,5 Prozent seiner Studenten haben die Note Fünf. Das ist vergleichsweise wenig. Den Kurs „Technische Mechanik 2“ haben an der Hamburger Fachhochschule, Bereich Fahrzeugtechnik, im letzten Semester 36 Prozent der Teilnehmer nicht bestanden. Und den Unterricht in „Mathe 1“ muß gar jeder zweite wiederholen. 14 Studis mußten gar zum dritten Mal ran. Danach ist Schluß. Wer dann durchfällt, muß sein Studium an den Nagel hängen.

Robert* ist mit elf Semestern schon fast ein Langzeitstudent. Er bezieht kein BAFöG, muß arbeiten, studiert nur sporadisch. Da sei ihm der anonyme Fachhochschulbetrieb am Berliner Tor ganz lieb, sagt er. Sein seltenes Erscheinen fällt niemandem auf. An diesem Vormittag besucht er die Vorlesung „Technische Mechanik“. Der Klassenraum füllt sich nach und nach mit 40 Studenten. Der Dozent kommt rein, setzt seine Kreide dort an, wo er sie vor der Pause hat fallenlassen und schreibt eine Formel mit 32 Zeichen an die Tafel und noch einen Satz und noch eine Formel. Nach zehn Minuten die erste Frage ans lernende Publikum. Da keiner der jungen Männer etwas sagt, antwortet er sich selbst. Frontalunterricht. Robert hat an diesem Grundkurs in früheren Semestern schon zweimal teilgenommen, aber nie die abschließende Klausur mitgeschrieben. Aus Angst. Wäre er beide Male durchgefallen, stünde er jetzt wie sein Freund Christian* vor dem alles entscheidenden „Dritten Versuch“.

Anderthalb Jahre Paukerei in einem der drei entscheidenden Grundfächer Mathe, Mechanik und Thermodynamik für die Katz'? Die Worte „Durchfallquote“ und „Abbrecher“ mag keiner der jungen Männer am Berliner Tor gerne hören. Auch der Vertreter vom Fachschaftsrat ist über die Parkplatzproblematik weit besser informiert. Dabei ist es kein Geheimnis, vielmehr eine „alte Leier“ (FH-Sprecherin Marion Hintloglou), daß in den Ingenieur-Studiengängen 50 Prozent das Handtuch schmeißen.

Dieser Mißstand wurde Jens* bereits in seiner Orientierungseinheit zu Studienbeginn offenbart. Und in der Tat: Als der Fahrzeugbaustudent nach mitlerweile drei Jahren Studium auf der diesjährigen Semesterfete nach bekannten Gesichtern Ausschau hielt, fühlte er sich schon recht verloren. An der Fachhochschule wird in Klassen gelernt. Als Jens anfing, waren es 40 Studenten. Zwei Semester später nur noch 32. Heute zählt er sechs Kommilitonen. Elf weitere hinken ein oder zwei Semester hinterher. Es mag Zufall sein, aber für Jens ist es schon bedrückend, daß zwei seiner Kommilitonen inzwischen tot sind. Der eine war sein Tutor, hatte zwei Semester über ihm studiert, sich eines Tages vor die S-Bahn geworfen. Der andere hatte in der selben Klasse studiert. Ein oder zwei Semester. Dann kam eines Tages sein Bruder aus Bayern angereist, reichte ein Foto in der Mensa herum. Ob jemand wüßte, was mit seinem Verwandten passiert ist. Er war im Studentenwohnheim tot aufgefunden worden. An seinem Erbrochenen erstickt.

Das Verschwinden von Studenten ist ein Phänomen, an das man sich am Berliner Tor gewöhnt hat. Die Präsidialverwaltung am Winterhuder Weg hat keine konkreten Zahlen, wohl aber das Sekretariat von Professor Heinz Krisch, dem Sprecher am Fachbereich Fahrzeugbau. Im Sommersemester 1992 stehen rund 130 Studienanfänger 70 fertigen Fahrzeugbau-Ingenieuren gegenüber. Setzt man eine etwa gleichbleibende Anfängerzahl voraus, so bedeutet das eine Schwund-Quote von 47 Prozent. Ein Blick in den neusten Bericht der „Hochschul-Informations-System-GmbH“ (HIS) aus Hannover relativiert die Dramatik. Viele Studenten würden ihr Studium gar nicht abbrechen, sondern nur unterbrechen, um zwischendurch in der freien Wirtschaft Geld zu verdienen, oder aber Fach oder Studienort wechseln. Bereinigt man die Statistik um diese Faktoren, ergibt sich bundesweit für Ingenieure eine Abbrecherquote von 27 Prozent.

Über die Hamburger FH sagt dies noch nicht viel. Verglichen mit der TU Harburg — dort sollen bei Klausuren Durchfallquoten von 50 bis 75 Prozent üblich sein — hat sie sogar den Ruf einer weichen Uni. Obwohl total überlastet, zieht sie Studierwillige aus dem ganzen Bundesgebiet magisch an. 1975 kam an der FH ein Professor auf neun Studenten. Heute teilen sich 36 Fachhochschüler die Aufmerksamkeit eines Profs — statistisch gesehen.

Zahlen sind eine Sache, die menschlichen Schicksale die andere. Jens hat sein Grundstudium nur geschafft, weil er jeden Tag im Anschluß an die Seminare bis zehn Uhr nachts gepaukt hat. Eine 80-Stunden-Woche. „Im Unterricht habe ich immer nur wie ein Blöder mitge-

schrieben und nichts kapiert“, erinnert er sich. Das Fragenstellen hat er sich bei den auf sturen Frontaluntericht geeichten Dozenten schnell abgewöhnt. Das eigentliche Lernen fand dann am heimischen Schreibtisch statt. Ein Streß, den auch die meisten seiner Kommilitonen mitgemacht haben. Einige hätten in dieser Zeit ihre Freundin verloren. Kaum Freizeit, keine Kontakte, Isolation, dann zwei oder drei Klausuren nicht bestehen, eine kritische Situation für einen 22jährigen, besonders wenn er in einer fremden Stadt lebt.

„Dem Ingenör ist nichts zu schwör“, heiß es im Volksmund. „Da gibt es so einige eklige Fächer im Grundstudium, eine Hürde, die genommen werden muß“, erklärt FH-Sprecherin Marion Hintloglou. „Die Vorkenntnisse der Studienanfänger, besonders die der Abiturienten, reichen oft nicht aus“, sagt Fahrzeugbau-Prof Heinz Krisch. „Hohe Anforderungen“ sowie „unzulängliche qualifikatorische Voraussetzungen“ führt auch HIS als Ursache für den Studienabbruch an.

Doch könnten es nicht auch

künstlich hohe Anforderungen sein, um die Studentenzahl auf ein verträgliches Maß zu reduzieren? Es kann doch nicht angehen, daß man mit der Zeit junger Menschen so verschwenderisch umgeht, sie mehrstündige Wochenkurse zwei- oder dreimal durchlaufen läßt, statt eine Unterrichtsform zu wählen, bei der die Fachhochschüler verstehen, was vorgetragen wird. Oder warum wird das Hauptstudium plötzlich soviel angenehmer für die Studenten, nehmen sich die Professoren dann mit einem Mal Zeit?

Jens hat im Grundstudium stets alte Klausuren als Übung benutzt. Vor allem in Mathe, sagt er, würde der Schwierigkeitsgrad von Jahr zu Jahr erhöht. Eine Klausur, die sein Stiefvater Mitte der 70er Jahre geschrieben hatte, wäre noch so einfach gewesen, daß er sie schon vor Studienbeginn so nebenbei beim Frühstück rechnen konnte. „Eure Taschenrechner werden ja auch immer besser“, hatte ihm ein Dozent erklärt. Hauptsache die Durchfallquote stimmt. Kaija Kutter

*Namen geändert

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