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Mit schrottreifem Reaktor in strahlende Zukunft

■ Der dritte Block des Unglücks-AKWs Tschernobyl ging gestern wieder ans Netz

Tschernobyl (dpa) — „Man schlachtet doch kein Huhn, das goldene Eier legt.“ Der Bürgermeister der Tschernobyl-Stadt Slawutschitsch, Wladimir Udowitschenko, blickt triumphierend in die Runde. Dieser Logik könne sich doch wohl kein vernünftiger Mensch verschließen, meint er. Gestern wurde der dritte Block des seit Jahren strahlenden Schrottreaktors nach vier Monaten Pause wieder angefahren. Doch die deutschen Experten, im EG-Auftrag vor Ort, hatten gerade noch Zeit, ihr Entsetzen über den katastrophalen Zustand zu bekunden.

Wer per Sondergenehmigung die 30-Kilometer-Sonderzone in einem der altersschwachen Werksbusse durchfahren hat, gelangt zu der gigantischen Anlage. Sie besteht aus insgesamt vier Reaktorblöcken mit je 1.000 Megawatt Leistung. Ihr Wahrzeichen ist der undichte Sarkophag aus Beton um die hochstrahlenden Trümmer des Blocks vier. Schon von außen fällt die schlechte Qualität der Baustoffe und ihrer Verarbeitung ins Auge: Gerade mal 15 Jahre alte Fassaden bröckeln, Türen hängen schief, Fenster sind blind.

Die Hoffnung der deutschen Brandschutzexperten, die Betreiber hätten aus dem Super-GAU vor gut sechs Jahren gelernt, wird in der Anlage bitter enttäuscht. Nach einer Sicherheitsschleuse, die nur sehr hohe Strahlenwerte mißt, geht es ohne echte Schutzkleidung, nur mit Baumwollmasken vor dem Gesicht und einem weißen Häubchen auf dem Kopf, in strahlengefährdete Bereiche. Dort, wo vermutlich radioaktiver Staub herumliegt, darf von Besuchern nichts berührt werden.

Statt brandfester Türen quietschen ausgeleierte Sperrholztüren in den Angeln. Die Schläuche der wenigen Hydranten sind brüchig und würden im Ernstfall nach Einschätzung des international erfahrenen Brandbekämpfers Ernst Achilles sofort platzen. Spritzrohre sind mit leeren Zigarettenschachteln verstopft.

Auf den seit dem Unfall verstrahlten Fußböden liegen leicht brennbare Matten aus Polyäthylen. Über einen mehrere hundert Meter langen Flur, der die restlichen drei Blöcke miteinander verbindet, könnten sich bei einem neuen Unfall Feuer, Rauch und Radioaktivität blitzschnell in der ganzen Anlage verteilen, warnt der unabhängige Gutachter von Lloyd in Hamburg, Joachim Klindt. Ungläubig registriert er flackernde Lampen, unübersichtliche Schaltpulte, krumme Versorgungsleitungen und leicht entflammbare elektrische Kabel: „Damit hab' ich nicht gerechnet.“ Der ebenfalls von der EG beauftragte Gutachter Achilles blickt sorgenvoll zur rissigen Decke: „Das Ding ist auch stillgelegt eine tickende Zeitbombe.“

Ob Tschernobyl tatsächlich, wie von der Ukraine angekündigt, 1993 endgültig stillgelegt wird, ist noch unklar. Der Direktor des Werks, Nikolai Sorokin, hält das Werk jetzt für sicherer als 1986. Außerdem brauche die unabhängige Ukraine, die in einer schweren Wirtschaftskrise steckt, die Einnahmen aus der Stromproduktion. Er rechnet vor, daß pro Jahr umgerechnet rund 600 Millionen Dollar Strom produziert werden könnten. Und der fließt teilweise über das Verbundnetz durch Ungarn bis nach Österreich.

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