piwik no script img

Oh Freimarkt — Oh Exstase

■ Seit Sonnabend: Das 957. bremisch-bürgerliche Rauschvergnügen auf der Bürgerweide

Ganz am Ende eines langen Freimarkt-Tages steht man vielleicht auf dem Bahnhofsvorplatz und hält noch einmal inne, um durchzuatmen. Die Diskomusik der großen Rummelmaschinen ist noch weit entfernt von der Bürgerweide zu hören — da dringt plötzlich etwas ganz Altmodisches ans Ohr: eine Art Leierkastenmelodie, nur stärker und prächtiger. Bei den Telefonzellen steht ein Jahrmarktswagen, von gelben Glühbirnen erleuchtet. Mit Orgelpfeifen und trommelnden Engelein. Zwei hölzerne Grazien drehen sich im Takt. Eine Mark Einwurf: Dsching da da. Und drei Kinder, höchstens zwei Jahre alt, tanzen froh und selbstvergessen einen ursprünglichen Hüpftanz. — So einfach kann ein Vergnügen sein. Eigentlich.

Aber wer wird sich im Ernst über die exstasesüchtigen FreimarktbesucherInnen mokieren? „Leute, wollt ihr's noch einmal?“ brüllt es angeberisch aus dem Lautsprecher des „Breakdancers“ den fliegenden BremerInnen entgegen. Und die Leute, mit heißen, vom Schreien und hysterischen Lachen verzerrten Gesichtern, brüllen: „Jaaa!“, werden noch eine Runde in irrsinnigem Tempo mit ihren Sitzen ruckartig vorwärts und rückwärts im Kreis geschleudert und krallen sich glücklich-erschöft aneinander.

Auf zur „Evolution“, eine der diesjährigen Freimarktsneuheiten, um in einer Gondel hoch, hoch und noch vielviel höher gehoben zu werden und sich mit 50 anderen Verrückten in 35 Meter Höhe zu überschlagen. Und zum „Can Can“, wo man wie eine Schulklasse parallel nebeneinandersitzt, und sich, kopfüber, kopfunter, 90 Grad herumwerfen läßt. Dagegen ist die gute alte Sekundenfahrt mit der Achterbahn beinahe schon ein harmloses Kindervergnügen. Oder? „Nein, nein“ windet sich ein Mädchen aus den Armen ihres Vaters, „ich trau mich nicht!“ Und steht dann Schlange vorm „Magic Mountain“, weil die beiden Riesenaffen es locken, und ahnt nicht, daß in dem Riesenzelt die „schnellste Schnellbahn“ der Welt versteckt ist, in der es kreischend 16 Meter abwärts sausen wird, im Dunkeln...

100.000 Quadratmeter nimmt der Freimarkt ein, 365 Schaustellerbetriebe haben ihre Attraktionnen für 15 Tage aufgebaut. Mehr als drei Millionen Gäste werden dieses Jahr erwartet. Die Preise liegen bei Zweimarkfünfzig für eine Minute Kinderkarusell und drei bis vier Mark für die rasanteren Maschinen. Die Fahrt durch den „Magic Mountain“ kostet acht Mark, nicht schlecht, auch wenn die Investitionskosten über 13 Millionen Mark gelegen haben. Die Schaustellerbranche ist geplagt vom Horror vor Umsatz-Einbrüchen: Ihren Spekulation auf die Bürger-Sehnsucht nach dem immer wilderem Rausch steht ein realer Kaufkraftverlust der Familien entgegen.

Natürlich gibt es für die FreimaktsbesucherInnen Mittel und Wege, das Preis-leistungsverhältnis zu ihren Gunsten zu manipulieren. Glückliche brauchen nur drei Lose, um ihren Gummibaum oder den bonbonfarbenen Teddybären zu gewinnen. Ein geschickter blonder Junge, ruck-zuck-zuck, krallt schon beim ersten Mal einen Stoffigel mit der Greifmaschine. Seine kleine Schwester, die das Geld aus derselben Tasche erhält, schafft und schafft es nicht.

Und ganz toll ist natürlich die Boxbude! 300 DM gewinnt, wer den dicken Catcher, vormals bekannt als „Meister Propper“ in der Fernsehwerbung, ausknockt — und muß nicht mal Eintrittsgeld zahlen. Ein kräftiger Glatzkopf wagt den Kampf im Inneren der Bude, und unter dem Jubel der ZuschauerInnen gewinnt er, catch as catch can, wenn auch leider nicht mit k.o..

Im Festzelt „Riverboat“, wo die Freimarkt-Geschäftsleitung ihr abgezirkeltes Refugium hat, singt ein Teeny-Trio aus der ehemaligen DDR ein Loblied auf Arbeit und Schule — dafür bezahlt man gern den doppelten Preis für Cola und Bier. Und fährt zum Abschluß noch einmal mit dem Kettenkarussel. So schön und luftig ist das, Tränen springen aus den Augen. Das aber ist nur der Fahrtwind...

Jetzt schnell noch eine Tüte Schmalzkuchen und dann: Adieu, Freimarkt. Für diesen ersten Tag.

Cornelia Kurth

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen