Und sie nehmen ihn doch

■ Achtung, nicht wegwerfen! Eine Studie beweist: Das Medium Handzettel ist besser als sein Ruf

Ein Alptraum aller HandzettelverteilerInnen: Von den Passanten werden sie mit Mißachtung bestraft, die wenigen verteilten Flugblätter liegen achtlos weggeworfen auf dem Straßenpflaster.

Daß diese Vorstellung vom Handzettel als „Wegwerfmedium Nr. 1“ so nicht stimmt, beweist jetzt eine Studie des Hannoveraner Instituts für Journalistik und Kommunikationsforschung. In der Fußgängerzone von Münster wurden 1.037 PassantInnen befragt, die einen zuvor angebotenen Handzettel angenommen oder abgelehnt hatten.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind überraschend: Schon kurz nach der Annahme haben bereits mehr als zwei Drittel aller AnnehmerInnen wenigstens die Überschrift und somit das Thema des Handzettels zur Kenntnis genommen. Das läßt vermuten, daß selbst weggeworfene Zettel (rund zehn Prozent aller verteilten Papiere) zuvor gelesen werden.

Gerade die Herausgeber von Handzetteln ohne Profit-Absichten — wie Bürgerinitiativen oder Vereine — haben mit ihren nichtkommerziellen „Flugblättern“ einen großen Vorteil: Ihre Anliegen erscheinen den PassantInnen wichtiger, deshalb nehmen rund zwei Drittel aller Befragten Flugblätter an. Für die Belange kommerzieller Herausgeber interessieren sich hingegen nur wenige – daher liegt die Annahmequote der „Werbezettel“ im Schnitt bei 29 Prozent.

Es sind auch nicht die Handzettel im professionellen Desktop- Publishing-Look, die eine hohe Annahmequote aufweisen, sondern gerade diejenigen mit einem relativ simplen Layout (Filzschreiberüberschrift und Schreibmaschinensatz). Sie werden offenbar aus Angst vor Reklame bevorzugt.

Aber nicht nur die Gestaltung der Zettel entscheidet über Annahme oder Ablehnung. Auch die Person des Verteilers ist von zentraler Bedeutung: Gerade ältere Leute vertrauen bei der Handzettelannahme häufig auf ihr Gefühl: Erscheint ihnen ein Verteiler unsympathisch, ist die Ablehnung nahezu garantiert. Wer Charme besitzt, sollten diesen spielen lassen – empfiehlt ein „Leitfaden für Handzettelherausgeber“ am Schluß der Studie. Aufdringlichkeit, erst recht die ungewollte Verwicklung in ein Gespräch bewirken, daß PassantInnen auch in Zukunft keine Handzettel mehr annehmen werden.

Als Vorteil kann sich die geschickt ausgewählte Kleidung erweisen. Ob dezent oder originell: Leuchtende Farben, die sich von den aktuellen Modefarben abheben, sorgen dafür, daß der Verteiler zumindest wahrgenommen wird. In der Befragung hatten 25 Prozent der FußgängerInnen den Verteiler nicht einmal gesehen.

Eine Typologie des Handzettelpublikums zeigt: Auf junge WählerInnen der Grünen können sich Handzettelherausgeber weitgehend verlassen, wenn die Zettel nicht erkennbar „Reklame“ enthalten. Gerade diese Zielgruppe erweist sich allerdings als sehr kritisches Publikum und entscheidet bereits kurz nach der Annahme, ob der Zettel weitergelesen wird oder nicht.

Auch PassantInnen, die sich nur besuchsweise in einer Stadt aufhalten, sind willkommene Handzettel-Annehmer. Sie stecken den Zettel meist ungelesen ein, um ihn später zu Hause zu studieren. Schwierig wird es beim älteren, konservativen Publikum: Weil ihre Haltung gegenüber Handzetteln von vorneherein negativ und ihre Eile groß ist, nehmen sie VerteilerInnen häufig nicht einmal wahr.

Und die Wirkung? Fest steht, daß Handzettel die Außenwirkung der HerausgeberInnen auf jeden Fall verbessern. Vorausgesetzt, sie nehmen Abschied von der Maximalforderung, daß jeder Zettel komplett gelesen wird, alle LeserInnen sich an einer Unterschriftenaktion beteiligen, anschließend eine Demo zum Thema besuchen und ganz nebenbei auch noch ihr Bewußtsein ändern.

Die Studie zeigt, wie Handzettel eine bescheidene, aber nicht zu unterschätzende Rolle spielen: Die Ansprüche der HerstellerInnen dürfen nicht zu hoch gehängt werden. So hat ein Handzettel schon seinen Zweck erfüllt, wenn eine alte Dame im Vorübergehen registriert, daß es Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan gibt, oder jemand feststellt, daß seine alte Friedensinitiative doch noch existiert. Die Studie zeigt, daß Handzettel gerade dann eine Wirkungschance haben, wenn sie ihren Part im Konzert der Massenmedien spielen – sei es mit ungewöhnlich neuen Informationen oder mit bekannten Tatsachen, die Leuten auf überraschende Weise nähergebracht werden.

Lutz Goertz: Reaktionen auf Medienkontakte. Wann und warum wir Kommunikationsangebote annehmen. Eine empirische Untersuchung zur Verteilung von Handzetteln. Westdeutscher Verlag, 256 Seiten, 46 DM.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik und Theater/Hannover.