: Bonsoir Tristesse
Im neuen französischen Chanson herrscht die Melancholie. ■ Von Ulrich Patzwahl
Für die Titelseite die Todesnachricht, für die Sonderseiten der Lebenslauf – auf das Ableben Serge Gainsbourgs im März 1991 war die Pariser Presse vorbereitet. In den Wochen danach dann die Erinnerungen an Gainsbourgs exzessive und erotische Episoden. Seither und schließlich gilt das Interesse dem Poeten, dem Zyniker, vor allem aber Gainsbourgs Hang zur Melancholie.
Nun hat Melancholie in Frankreich eine eigene literarische Tradition: Baudelaire beschwört die Finsternis, Rimbaud und Verlaine leben in ihr. Sie schrieben ihre Gedichte auch, um ihr Unglück von dem alltäglich Erlebten, dem Banalen zu befreien. Serge Gainsbourg hat sie verehrt. Ob er tatsächlich ihr legitimer Erbe ist, ob seine Verse neben denen Verlaines bestehen können, darüber mögen sich die Wissenschaftler streiten. Die Art und Weise ihres Dahinscheidens ist unbestritten die gleiche: Folge übermäßigen Alkoholkonsums.
Erstaunlicher als diese Parallele ist das Interesse, das die Öffentlichkeit dafür aufbringt: ein Interesse an des Künstlers Schmerz und Tragödie. Gainsbourg hat es geweckt, jetzt, nach seinem Tod, ziehen andere ihren Nutzen daraus. Mylène Farmer, hübsch anzusehen und von deutschen Zeitungen leichtfertig in die Nähe des traditionellen Chansons gerückt, vermeidet schon seit Jahren jedes öffentliche Lächeln. Sie gibt Konzerte vor einer Kulisse erzitternder Grabsteine und erhellt ihr düsteres Innenleben, so gut es eben geht, mit Selbstverfaßtem – neuerdings auch auf englisch. Abzüglich aller Wiederholungen ist etwa der Text von „Psychiatric“ ganze neun Wörter lang: „It's easy this time to loose my mind.“
Über die literarischen Wurzeln solcher Dichtkunst läßt Mylène den Hörer nicht im unklaren: Schon vom Cover ihrer CD „L'Autre“ grüßt das Düstertum in Gestalt des Poeschen Raben. Auf der Bühne, vor erwähnten Grabsteinen, singt Mylène dann eine strapaziöse Rauchschwadenversion des gewaltigen Baudelaire- Gedichts über die Vergänglichkeit: „L'Horloge“, („Die Uhr“). Und für Kleidung, Haar und Tapeten benutzt sie seit drei Jahren ausschließlich die Blut- und Todesfarben Rot und Schwarz (Stendhal!).
Andere sind weniger plakativ, aber genauso dem Tristesse-Trend zugetan. Zu nennen wäre Francis Cabrels letzte Live-Aufnahme, „D'Une Ombre A L'Autre“ („Aus einem Schatten in den nächsten“) oder die Band aus Bordeaux, deren Name schon die Geisteshaltung anzeigt: „Noir Désir“ – „Schwarzes Verlangen“.
Um ein behutsames Umgehen mit der Melancholie, bisweilen gar ein Hinterfragen des Phänomens, geht es Jean-Louis Murat. Der Sohn schafzüchtender Eltern kommt aus der Auvergne. Es gibt dort weder Autobahnen noch TGV-Hochgeschwindigkeitszüge, nur eine einzige wirklich große Industrieansiedlung, und außerdem fällt ungewöhnlich viel Regen.
„Regenmantel“ („Manteau De Pluie“) heißt denn auch Jean- Louis Murats letzte CD. Die Auvergne und die von Murat dortselbst aufgenommenen Naturgeräusche (vom Rauschen der Wälder bis zum fernen Gebell der Hofhunde) verleihen den kargen, eigenwilligen Balladen einen nachgerade landschaftlichen Nachhall. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner bemühten Herbeizitierung der Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, oder wie sie alle heißen; deren paranoide Ausweglosigkeiten, ihre Abgründe werden wie von selbst wach, wenn Murat jeder begonnenen menschlichen Liebe das unumgängliche Ende voraussagt.
Seine Poesie ist wahrlich finster, ihre Themen heißen Rückzug und unerfüllte Sehnsucht. Murat singt seine Texte jedoch mit Kaminzimmerstimme und kommentiert sie distanziert bis geringschätzig: „So ist es doch in allen Bereichen der Kunst“, sagt er, „ohne den Antrieb von Melancholie und Traurigkeit hätten 90 Prozent aller Künstler nichts zu tun.“ Die derzeitige Melancholie in Frankreich sei aber darüber hinaus „auch als Reaktion zu verstehen auf eine immer unvorhersehbarere Zukunft“. Der Künstler schaue „mit Wehmut in den Rückspiegel“ – und sein Publikum tue das auch.
Klingt schlüssig. Nur wäre die französische Pop-Melancholie in diesem Fall keine Avantgarde, sondern reine Nostalgie. Sie müßte es sich gefallen lassen, neben die anderen Zeichen gesellschaftlicher Stagnation in Frankreich gesetzt zu werden, etwa die vielen Werksammlungen, die Gesamtausgaben einstmals ruhmreicher französischer SängerInnen (alles von Brassens auf zwölf, ganz Brel auf zehn CDs); oder die aufwendigen Kinofilme, gleich drei im letzten Jahr, in denen es um vergangene französische Kolonialzeiten geht; auch der neue Regionalismus gehört dazu, der etwa den Elsässern, nach Jahren des Imports aus Deutschland, jetzt wieder eigene Schlagerproduktionen beschert.
Jean-Louis Murats Erfolg, sein Rückzug in seine Region erscheint, so gesehen, in ganz anderem Licht. Der Rückzug wäre kein Rückzug von der Masse, sondern selbst eine Massenbewegung und, bei aller zugestandener Poesie, nicht allzuweit entfernt von der Kommerz-Tristesse Mylène Farmers.
„Frankreich“, sagte Francois Mitterrand vor einiger Zeit, „befindet sich in einem Zustand der Sehnsucht.“ Den Tod Gainsbourgs nahm der Präsident aller Franzosen „avec tristesse“ zur Kenntnis. Unvorstellbar wären ähnliche Kommentare von öffentlicher Seite vor 100 Jahren gewesen, im Zeitalter der Dritten Republik. Sehnsüchtig waren da nur Rimbaud, Verlaine und ihr Umfeld. Zur echten Wehmut fehlt der neuen französischen Melancholie einfach der spleen, eine gewisse Marginalität.
Discographien:
Mylène Farmer: „Cendres De Lune“ (Polydor 1986); „Ainsi Sois-Je“ (Polydor 1988); „Mylène Farmer En Concert“ (Import, Polydor-France No. 841-744-2, 1989); „L'Autre“ (Polydor 1991)
Jean-Louis Murat: „Cheyenne Autumn“ (Import, Virgin-France No. 30674, 1989); „Le Manteau de Pluie“ (Import, V-France No. 30865, 1991); „Sentiment Nouveau“ (Maxi + 4 inédits, V.-F. 35089, 1992); „Cours Dire Aux Hommes Faibles“ (Maxi + 1 inédit, Virgin-France, No. 35089, 1992)
Serge Gainsbourg ist hier nicht discographisch wiederzugeben. Nur soviel: Auf der 9-CD-Compilation von 1989 „De Gainsbourg A Gainsbarre“ (Import, Philips No. 838-387-2 bis 838-395-2) fehlen die Studioeinspielungen der letzten Jahre und fast alle Live-Aufnahmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen