Scharfe Kurve

■ „Berliner Künstler in Istanbul“: Fotos von Nelly Rau-Häring

Es ist der Blick aus einem Fenster, den jenes Bild zeigt, das der Ausstellung im Heimatmuseum Charlottenburg den Namen gibt. Die Wohnung mit diesem Fensterblick wurde der Fotografin Nelly Rau-Häring als Stipendiatin des Senatprojekts „Berliner Künstler in Istanbul« zur Verfügung gestellt. 1991 lebte sie also drei Monate mit der Warnung „Chauffeur, Achtung!“ vor Augen und Kamera.

Das „Söför Dikkat“ ist auf die weißen Grundmauern eines alten Holzhauses gepinselt, das die Kurve einer stark abschüssigen Straße begrenzt. Ein Unglück passierte auch an dieser Ecke und Nelly Rau-Häring hat es fotografisch festgehalten, aber überraschenderweise ist es nicht ein Auto, das an der Hauswand klebt, — ein Feuer zerstört das Haus selbst. Schwere Rauchschwaden hängen in die Luft und lassen das Meer im Hintergrund kaum erkennen. Drei Männer stehen vor dem brennenden Haus und schauen die Straße hinunter, die dem Blick der BetrachterInnen entzogen ist. Einer von ihnen macht eine Geste wie 'hierher müßt ihr kommen'. Aber so genau läßt sich das nicht deuten.

Die Schwarz-Weiß-Fotografien von Nelly Rau-Häring erzählen Geschichten, aber nur angedeutet; ihr Verlauf, ihr Ende und ihre Pointe sind offen. Es sind Geschichten wie sie die Flaneurin erzählt. Im Umherstreifen nimmt sie den Faden einer Geschichte auf, um ihn im Weitergehen wieder fallen zu lassen. Ein Mädchen geht lachend eine Straße entlang. Ein Kaugummi blitzt aus zwischen ihren ebenmäßig schönen Zähnen hervor. Ihre Hände gestikulieren. Deutet sie auf jemand Bekannten, die ihr entgegen kommt? Die Geschichte, die nicht erzählt wird, deutet über das Foto, den Ausschnitt, den Moment, den das Foto packt, hinaus.

Es ist keine Fotoreportage, die viele Momente addiert, um das Ganze zu erfassen, die Nelly Rau- Häring von ihrem Istanbulaufenthalt mitgebracht hat. Und dennoch ist dieses stillgestellte Leben der Stadt reich an Details, die auch fast schon die ganze Geschichte sein könnten. Ein Mädchen geht lachend die Straße hinab. Sie kaut Kaugummi und sie trägt ein westliches Karojacket, ihre Haare scheinen blond gesträhnt zu sein. Sie weiß nicht, daß sie fotografiert wird. Zwei Mädchen mit Kopftuch, ebenso unbewußt der Kamera, die sich auf sie richtet, schauen besorgt auf die andere Straßenseite, was sehen sie dort? Auch hier wieder die Geste der Hand. An den Mund geführt, drückt sie Spannung aus.

Und die Autos der Stadt, sie sagen ja — egal wo immer auf dieser heutigen Welt man sich befindet — so viel aus, über den Ort, an dem man ist. Es ist ein Mercedes, älteres Baujahr, der vor dem abgestorbenen Baum, vor den niedrigen Häusern, geparkt steht. Neben dem alten Ungetüm von einem Sammeltaxi bilden wohl zwanzig wartende Männer eine Schlange. Und dann erhebt sich in geradezu dramatischer Pose das moderne Betonparkhaus über die heruntergekommene Umgebung. Der Marlboro Cowboy strahlt neonleuchtend gegen den im Dämmerlicht liegenden Hintergrund des Goldenen Horns.

Diese Bilder zeigen die Heimat einer Heimat, die heute auch in Berlin zu finden ist. Denn die Foto- Blicke in die Caféhäuser muten einen seltsam vertraut an. Könnte dieses Bild nicht unweit des Heimatmuseums Charlottenburg entstanden sein? Die türkischen Caféhäuser Berlins sind in der Ausstellung zu denen Istanbuls gepaart. Den Unterschied zu sehen und die frappierende Ähnlichkeit ist einer der spannendsten Momente dieser sehenswerten Ausstellung. Ortsverlust in zweierlei Sinn ist die Erfahrung, die sich vermittelt. Und neue Verortung ebenso. Türkischer Kultur hier, und des Berliner Blicks in den dunstig-weiten Panoramen Istanbuls, der Stadt, die sich ebenfalls über zwei Welten erstreckt. Brigitte Werneburg

Bis 15. November, Heimatmuseum Charlottenburg, Schloßstraße 69, Di-Fr, 10-17, So 11-17 Uhr. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.