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Der Stau, den lieben wir alle

■ Es geht nicht mehr voran: Seit Wochen stockt der Verkehr auf den Straßen/ 600 Baustellen im Stadtgebiet als Engpässe/ Nässe und Kälte treiben die Menschen ins Auto

Das 18. Jahrhundert hat die Stadt wieder. Trotz Motorisierung sind manche Reisen heute nicht schneller als eine Kutschfahrt vor über zweihundert Jahren. Das mußte Stefan Braun, Doktorand der FU, vor kurzem feststellen. Eine Fahrt mit dem Wagen nach St. Augustin bei Bonn wurde zur Geduldsprobe. Frohen Mutes war er mit seiner Freundin und deren Vater an einem Freitag gegen zwölf Uhr in Neukölln gestartet. Zwei Stunden später war erst der Stadtrand erreicht. So wie dem 28jährigen Schwaben aus Böblingen geht es derzeit vielen. Fluchend sitzen sie in ihren Karossen, sehen in die grimmigen Gesichter ihrer Konkurrenten. Kaum ist das Wetter kühler geworden, scheinen Millionen den Verstand verloren zu haben. Obwohl nichts mehr geht, sind mehr Autos als sonst unterwegs, wie auch Tomas Spahn, Sprecher der Verkehrsverwaltung, feststellt: „Angesichts des schlechten Wetters scheinen es die Berliner vorzuziehen, lieber im warmen Auto den Stau zu erleben, als die BVG zu nutzen.“ Doch ein Ende des modernen Martyriums ist nicht abzusehen, wie Spahn glaubt: „Damit müssen wir in den nächsten Jahren leben.“

Ob es die Prenzlauer Allee stadteinwärts ist, die Heerstraße in Spandau oder die Yorckstraße in Schöneberg – besonders in den Spitzenzeiten am frühen Morgen oder nach Büroschluß am Nachmittag geht zeitweise nichts mehr. Rund 600 Baustellen überall in der Stadt blockieren die Verkehrströme. BVG-Busse bleiben im Stau stecken und können ihre Taktzeiten nicht mehr einhalten. Etwa die Linie 148: Von der Kaisereiche in Friedenau bis zur Staatsbibliothek quält sich der Bus kurz vor sechs Uhr abends fast 40 Minuten. Verspätungen von bis zu zehn Minuten waren in den letzten Tagen keine Seltenheit. Um die Zeiten noch einhalten zu können, muß die BVG inzwischen zusätzlich Busse einsetzen. BVG-Sprecher Wolfgang Göbel: „Wir brauchen schnellstens das 200-Kilometer-Busspurnetz in der Stadt.“ Eine altbekannte und oft wiederholte Forderung, mit deren Realisierung es derzeit nicht zum besten steht. Denn am Ku'damm läßt Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) die vorhandenen Busspuren zeitlich einschränken — gegen den Willen der BVG und der Taxiverbände.

Die in letzter Zeit schwer unter Beschuß geratene Verkehrsverwaltung zieht sich daher auf individuelle Erklärungsmuster zurück. Ärgerlich, so Sprecher Spahn, sei das „undisziplinierte Verhalten vieler Berliner, die in Kreuzungsbereiche einfach hineinfahren und damit alles blockieren“. Doch es sind wohl weniger verkehrspädagogische Defizite, die den Stau auslösen.

1,4 Millionen Wagen sind in Berlin zugelassen – fast jeder zweite Einwohner ist also motorisiert. 96 Stunden stehen die Autos im Berlin durchschnittlich im Jahr im Stau, umgerechnet rund vier Tage. Was sie – stehend – in die Luft blasen, kann sich sehen lassen: 1.070 Tonnen Kohlenmonoxid, 121 Tonnen Kohlenwasserstoff, 8,5 Tonnen Stickoxyde. Und die Prognosen gehen von 2,4 Millionen Autos im Jahr 2010 aus.

Doch wie dem Stau begegnen? Die CDU, im Wahlkampf 1990 mit dem Versprechen angetreten, ihn aufzulösen, setzt auf den verstärkten Straßenausbau — und verärgert damit den Koalitionspartner SPD. Jüngstes Beispiel: der Vorstoß, die Leipziger Straße in Mitte nicht wie vorgesehen zurück-, sondern sogar auszubauen.

Die diversen Bürgerinitiativen — sei es für die Einführung von mehr Tempo-30-Zonen oder gegen die Öffnung der Oberbaumbrücke für den Kfz-Verkehr – weisen schon seit geraumer Zeit daraufhin, daß Straßenneu- und -ausbau nur noch mehr Autos anzieht. Die Hoffnung der Verkehrsverwaltung, durch die Einführung des „Grünen Pfeils“ im Westteil den „Verkehr flüssiger zu machen“ (Sprecher Spahn) wird beispielsweise von der AL in Charlottenburg abgelehnt. Das Verkehrszeichen aus der DDR, das das Rechtsabbiegen auch bei Roter Ampel gestattet, würde neben der „wachsenden Unfallgefahr auch einen starken Attraktivitätsgewinn für den Autoverkehr“ bedeuten, so die Verkehrs-AG der AL im Bezirk. Der Widerstand gegen die ungehemmte Autoliebe ergreift zunehmend die Anwohner von stau- trächtigen Straßen. Erst diese Woche untersagte das Verwaltungsgericht vorläufig die Verlängerung der Behrenstraße in Mitte, mit der die Grundlage für eine geplante Ost-West-Achse gelegt werden soll. Die klagenden Anwohner verweisen auf ein Gutachten der Gesellschaft IVU, nach der das Krebs- und Herzinfarktrisiko an Straßen im Citybereich 17mal höher ist als in anderen Teilen der Stadt.

Doch selbst der ganz profane Kampf gegen den Stau kann eine Menge Zeit kosten. Als Stefan Braun aus St. Augustin zurückgekehrt war, entschloß er sich, das neueste Angebot der Bahn in Anspruch zu nehmen. Doch bevor die 220 Mark teure „Bahncard“ in den Händen hielt, stand er zwei Stunden am Hauptbahnhof in der Schlange. Berlin, so scheint es, hat Zeit. Nicht nur auf den Straßen. Severin Weiland

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