Gedächtnisstütze des Fernsehens

■ Das „Haus des Dokumentarfilms“ will Fernseharbeiten vor dem Müllberg retten

Dokumentarisches Material der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten lagert in den Archiven hinter verschlossenen Türen. ARD und ZDF werden zwar von der Allgemeinheit finanziert, haben aber scheinbar Probleme mit der Öffentlichkeit: Sie betrachten ihre Lagerstätten lediglich als Fundus für hauseigene Produktionen. Selbst Anfragen von Wissenschaftlern oder freien Dokumentarfilmern werden meist negativ beantwortet. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß die Lager überquellen und die Archivare hoffnungslos überfordert sind. Ein Skandal, würden da die einen sagen — gut so, die anderen. Denn was wäre, wenn man tatsächlich auf Anfragen reagieren würde, und die Archivare am Ende gar vermelden müßten, daß das Gesuchte bereits vernichtet wurde?

Tatsächlich landet TV-Archivmaterial immer häufiger auf dem Müll, so daß Medienwissenschaftler wie Peter Zimmermann zu dem Schluß kommen, daß die Fernsehanstalten ihr eigenes Gedächtnis löschen. Zimmermann ist wissenschaftlicher Leiter des Stuttgarter „Haus des Dokumentarfilms“ (HDF), das zu Beginn dieses Jahres als Untermieter des SDR in der Villa Berg seinen Betrieb aufgenommen hat. Er ist mitverantwortlich für den Aufbau eines Dokumentarfilmarchivs, das die Situation erträglicher machen soll — allerdings nur für Fachpublikum. Alle anderen haben auch hier keinen Zutritt.

Dennoch will Zimmermann zusammen mit dem ehemaligen Programmdirektor des SWF, Dieter Ertel, und Geschäftsführer Franz Dülk ernst damit machen, ein Gegengewicht zur Selbstabschottung der Fernsehanstalten herzustellen. Auf die Fahnen geschrieben hat man sich das seit 1988, als im Zuge des europäischen Film- und Fernsehjahres in Lothar Späths Plänen plötzlich auch das HDF auftauchte — wohl als eine Art Trostpflaster für die damals von ihm geplante Zusammenlegung von SDR und SWF.

Das HDF soll ein Archiv für die wichtigsten deutschen und europäischen Dokumentarfilme werden und sich zum kommunikativen Zentrum für Produzenten, Fernsehredakteure, Wissenschaftler und Journalisten entwickeln, die sich von Amts wegen mit „Dokumentarfilm“ beschäftigen.

Peter Zimmermann und Geschäftsführer Franz Dülk gehen davon aus, daß das HDF auch ein Ort der Kommunikation wird, man plant Tagungen und Schriftenreihen. Da stehen Symposien über „Dokumentarfilm und Dritte Welt“, der Defa-Dokumentarfilm oder Tagungen über die „Öffnung der Archive und das Urheberrecht“ auf dem Veranstaltungskalender 1993.

Erst werden sie auf Fernsehnorm zurechtgestutzt

Daß solch ein Zentrum bitter nötig ist, darüber herrscht Einigkeit. Schon bevor das HDF aber seinen Betrieb aufgenommen hatte, wurde Kritik am Konzept laut, und zwar aus den Reihen der freien Filmemacher, die ein Gros der Fernseh-Dokumentationen produzieren. Sie sind der Meinung, das HDF werde wohl eher zu einer PR-Agentur des Fernsehens geraten, als daß es zum Nachdenken beitragen könnte. Da es im HDF in erster Linie um TV—Dokumentarismus gehen soll, könnte die neue „Begegnungsstätte“ nach ihrer Ansicht indirekt zur allgemeinen Tendenz beitragen, den Dokumentarfilm auf Fernsehnorm zurechtzustutzen.

Ein wunder Punkt im öffentlich- rechtlichen System, denn in den Fernsehanstalten setzt man allzu nonchalant die Entwicklung des Genres „Dokumentarfilm“ mit der des Mediums „Fernsehen“ gleich und nimmt die vielfältigen Formen des Dokumentarfilms, die auf Filmfestivals wie Oberhausen, Mannheim oder Duisburg zu sehen sind, nur eingeschränkt wahr. Da der Dokumetarfilm inzwischen nur noch im Fernsehen eine Chance hat, steht die Televisionierung des Genres kurz vor dem erfolgreichen Abschluß. Features und Reportagen gehen in genormten Din-A45 über den Bildschirm, dokumentarische Filmessays und experimentelle Dokumentarfilme haben kaum Chancen im Redaktionsschema der schnellen 45 Minuten.

Katrin Seybold kann ein Lied davon singen. Sie ist freie Filmemacherin und zählt seit Anfang der 70er Jahre mit Filmen wie „Ich möchte immer darüber reden“ über Angehörige der Herborn- Opfer zu den ambitionierten Dokumentaristen des deutschen Fernsehens. Sie ist eine der TeilnehmerInnen an einem Symposium des HDF, das seiner Standortbestimmung dienen sollte: „Viele der Redebeiträge während der Veranstaltung haben mir gezeigt, daß sich einige der Fernsehdokumentaristen und auch der HDF-Verantwortlichen in der Tradition und Vielfalt des Dokumentarfilms außerhalb des Fernsehens zu wenig auskennen. Die Frage wäre also, ob man sich über die Konzeption des Hauses nicht noch einmal Gedanken machen, oder ob man es nicht lieber gleich ,Haus des Fernsehdokumentarfilms' nennen sollte.“

...dann ereilt sie der frühe Archivtod

Im HDF selbst hat man allerdings ganz andere Probleme: Hier denkt man zunächst einmal darüber nach, wie das Archiv strukturiert werden kann. Die Archivare fangen ihre Arbeit bei Null an und haben sich zur Zeit vor allem mit rechtlichen Problemen herumzuschlagen. Die engen Grenzen, die durch das Urheberrecht gezogen werden, so argumentiert man im HDF, seien mit dafür verantwortlich, daß das Haus denn doch nicht so öffentlich werde, wie man es gerne hätte. Denn Dokumentarfilme dürfen nicht einmal für nicht- kommerzielle Zwecke weitergegeben werden. Abgesehen davon, daß Dokumentationen selten wiederholt werden, ist dies noch ein Grund dafür, daß sie nach ihrer Erstausstrahlung häufig vom Schicksal eines frühen Archivtodes ereilt werden. Wie schwierig es ist, an das Material heranzukommen, muß selbst eine Institution wie das HDF erfahren: „Die Archive sind dicht, und auch wir bekamen erst nach umständlichen Verhandlungen die Zusage von den Intendanten, daß wir in die Archive dürfen“, sagt Peter Zimmermann.

Angesichts solcher Probleme könnte man fast den Verdacht hegen, manchem Fernsehgewaltigen passe das rigide Urheberrecht ganz gut ins Konzept – als Mittel zur Selbstabschottung. Denn wenn dokumentarisches Material unter Verschluß ist, wird so ja auch der kritische Umgang mit der Geschichte des Fernsehens erschwert.

Der schwierigste Punkt für das HDF ist deshalb, ob sich in der Urheberrechtsfrage etwas bewegen läßt. Dazu Peter Zimmermann: „Ein wichtiger Schritt wäre, wenn wir zusammen mit ARD und ZDF neue Rahmenverträge für Dokumentarfilme aushandeln könnten, in denen enthalten ist, daß wir Filme mit Zustimmung der Autoren für Bildungszwecke ausleihen dürfen.“ Ein weiter Weg, denn die Probleme liegen im Detail. So will man zum Beispiel die Dokumentarfilme mittels kurzer Inhaltsangaben vorstellen, was die Fernsehanstalten nicht gerne sehen, denn das könnte ja Ausleih-Begehrlichkeiten wecken. Ein strittiger Punkt, bei dem unter Umständen bereits das beratende Kuratorium des HDF gefragt ist, das die Unabhängigkeit des Hauses sichern soll und sich aus Wissenschaftlern, Kritikern, aktiven und ehemaligen Dokumentarfilmern sowie Direktoren von Filmhochschulen zusammensetzt.

Die Absicht ist edel – aber da sind noch die Gründungsmitglieder, die das HDF und den Jahresetat von (noch) 1,1 Millionen tragen: Der SWF und SDR, das ZDF, die Verwertungsgesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten, das Land Baden-Württemberg, die Landeshauptstadt Stuttgart, die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die Diözese Rottenburg-Stuttgart und die regionale Industrie- und Handelskammer. Bleibt abzuwarten, ob die Geldgeber kritischem und innovativem Esprit aufgeschlossen gegenüberstehen, so er sich zeigen wird. Jürgen Berger